Essen. Der frühere Wirtschaftsminister und Chef der RAG-Stiftung, Werner Müller, ist tot. Viele Jahre lang hat er das Ruhrgebiet geprägt – ein Nachruf.

Werner Müller, der langjährige Chef der RAG-Stiftung und ehemalige Wirtschaftsminister, ist am Montagabend gestorben. Das bestätigte ein Sprecher von Evonik.

Die Hauptversammlung lief schon einige Zeit, als sich Werner Müller zu einer Klarstellung veranlasst sah. Eine Aktionärin war auf die Idee gekommen, Müller müsse wegen seiner schweren Erkrankung geschont werden bei seiner letzten Hauptversammlung als Evonik-Aufsichtsratschef. Die Redner sollten sich doch bitteschön beim Fragen zurückhalten. Das ging Müller dann doch ein bisschen zu weit. „Auf dem Kopf sieht’s kahler aus, im Kopf ist alles klar“, sagte er nur.

Werner Müller prägte das Ruhrgebiet als Chef der RAG-Stiftung, von Evonik und Wirtschaftsminister

Werner Müllers Auftritt auf der Hauptversammlung im Mai vergangenen Jahres war seine Art, die öffentliche Bühne zu verlassen – indem er seinen Dienst tat. „Wir sollten uns auf die Tagesordnung konzentrieren, dazu gehört mein Ausscheiden nicht“, sagte er nur. Abschiedsreden überließ er anderen.

Werner Müller auf dem Dach der neuen RAG-Stiftungszentrale in Essen im Dezember 2017.
Werner Müller auf dem Dach der neuen RAG-Stiftungszentrale in Essen im Dezember 2017. © FUNKE Foto Services | Ulrich von Born

Nun ist Werner Müller im Alter von 73 Jahren an den Folgen einer schweren Krebserkrankung gestorben. Das Ruhrgebiet verliert einen Menschen, der die Region viele Jahre lang entscheidend geprägt hat. Gespräche, die sich nicht allein um das vordergründige Thema der Verabredung drehten, gehörten zu seiner Art, Akzente zu setzen und Politik zu machen. Es lohnte sich immer, Müller zu besuchen, mit ihm eine Tasse Tee zu trinken und zuzuhören.

Werner Müller trug das Etikett des mächtigen Ruhrbarons

Es war schon fast zu einem Ritual geworden, dass Müller nach solchen Unterredungen sinngemäß sagte: „Ich bringe Sie noch eben zur Tür.“ Seine Sprecherin blieb dann meist im Büro, und Müller machte sich allein mit seinem Gast auf den Weg, um noch ein paar Worte zu wechseln und sich zu verabschieden. Das Etikett des ebenso unnahbaren wie mächtigen Ruhrbarons, das Müller so oft angeheftet worden ist, passte in solchen Momenten nicht.

Er war gewiss eitel, aber er trug nicht vor sich her, wie verdient er sich um das Land und die Region gemacht hat. Als Wirtschaftsminister und später als Chef des Essener RAG-Konzerns hat Müller den Atomausstieg und das Ende der vom Steuerzahler mitfinanzierten Steinkohleförderung maßgeblich mitgestaltet. Der Abschied vom Alten war stets mit dem Anfang für etwas Neues verbunden.

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Evonik, ein hochprofitables Unternehmen, das aus dem Subventionsempfänger RAG hervorging, ist Müllers Erfindung und steht sinnbildlich für ein Ruhrgebiet, das es aus eigener Kraft schafft. Schließlich wird mit den Dividenden des Konzerns die RAG-Stiftung finanziert, die auf ewig die millionenschweren Folgekosten nach dem Ende der Steinkohlenförderung tragen soll.

Gründervater des Chemiekonzerns Evonik

Werner Müller im Jahr 2004 in Haltern nach einer Grubenfahrt mit dem damaligen SPD-Fraktionschef Franz Müntefering (links) und Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt (rechts).|
Werner Müller im Jahr 2004 in Haltern nach einer Grubenfahrt mit dem damaligen SPD-Fraktionschef Franz Müntefering (links) und Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt (rechts).| © dpa | Franz-Peter Tschauner

Der Umbau der RAG mit einst mehr als 100.000 Mitarbeitern war eine ebenso gewagte wie komplexe Operation – Codename Alpha. Der sogenannte schwarze Bereich der Kohle wurde vom weißen Geschäft rund um Chemie, Energie und Immobilien getrennt. Bei der RAG blieben die Zechen. Später sollte sich Evonik auf die Chemie konzentrieren. „Mein Ziel war es, aus der RAG ein strotznormales Unternehmen zu machen“, sagte Müller einmal. „Das heißt vor allem, ohne Subventionen auszukommen.“

BVB kündigte Gründung von Evonik auf dem Trikot an

Ziemlich am Anfang von Evonik stand ein Ausrufezeichen auf dem Trikot des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund. Im Sommer 2006 war der Name Evonik noch nicht reif für die Öffentlichkeit. Nur ein sehr kleiner Kreis im Konzern kannte die neue Marke. Eine Saison lang trug die Mannschaft ein Trikot, auf dem ein grünes Ausrufezeichen zu sehen war. Erst mehr als ein Jahr später tauchte der Name Evonik auf, wenige Tage nach der Konzerngründung am 12. September 2007. Das Heimspiel gegen Bremen endete mit 3:0. „Wäre ja peinlich gewesen, wenn wir mit einer Niederlage begonnen hätten“, sagte Müller dazu später. Dem Verein blieb Müller später als Aufsichtsratsmitglied verbunden.

RAG-Stiftung ist Werner Müllers „Jahrhundertwerk“

Die Gründung der RAG-Stiftung sei ein „Jahrhundertwerk“, resümierte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, als er den von seiner schweren Erkrankung gezeichneten Müller im Frühjahr 2018 in der Düsseldorfer Staatskanzlei mit dem Landesverdienstorden auszeichnete. Dass Müller beim Kohleausstieg dafür Sorge getragen habe, dass „niemand ins Bergfreie“ falle, hob Laschet besonders hervor. Müller wiederum hielt sein prekärer Gesundheitszustand nicht davon ab, seine Situation mit dem ihm eigenen, leisen Humor zu beschreiben.

Evonik-Hauptversammlung in der Essener Grugahalle im Mai 2018: Werner Müller bei seinem letzten Auftritt als Aufsichtsratschef.
Evonik-Hauptversammlung in der Essener Grugahalle im Mai 2018: Werner Müller bei seinem letzten Auftritt als Aufsichtsratschef. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Als Müller im Februar 2018 seine Erkrankung öffentlich machte und seinen baldigen Rückzug ins Private ankündigte, hatte er erst kurz zuvor ein neues Büro bezogen – mit der schönen Adresse „Im Welterbe 10“ auf dem Essener Zollverein-Gelände. Zuvor befand sich sein Büro im Steag-Haus an der Rüttenscheider Straße. Das Ende des Untermieterdaseins schien Müller zu beflügeln. Aus seiner Stereoanlage tönte ausnahmsweise nicht Musik von Johann Sebastian Bach, sondern etwas Barockes von Jean-Philippe Rameau. Der im 17. Jahrhundert geborene französische Komponist gilt heute als Harmonie-Revolutionär. Auch Müller, der in jüngeren Jahren mit einer Karriere als Pianist geliebäugelt hatte, sich dann aber doch für einen Job in der Industrie entschied, überraschte gerne mit unkonventionellen Gedanken, die er stilvoll wie ein klassisches Klavierstück vortragen konnte.

Beim Umzug nach Zollverein noch voller Tatendrang – Bernd Tönjes übernimmt RAG-Stiftung

Beim Start in neuer Umgebung jedenfalls wirkte Müller voller Tatendrang. Das wichtige Jahr, in dem die beiden letzten deutschen Steinkohlenzechen schließen sollten, stand bevor. Als Chef der RAG-Stiftung sollte Müller die Rolle des Zeremonienmeisters übernehmen. Doch es kam bekanntlich anders.

Werner Müller im November 2018 bei der Jahreshauptversammlung von Borussia Dortmund.
Werner Müller im November 2018 bei der Jahreshauptversammlung von Borussia Dortmund. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Müllers Nachfolger als RAG-Stiftungschef, Bernd Tönjes, hat in Sichtweite zu Müller auf dem Zollverein-Areal gearbeitet. Unabhängig voneinander scherzten beide kurz nach dem Einzug noch über ihren Bürozuschnitt. Raumfragen sind bekanntlich Machtfragen. Aber in Müllers Büro, das Tönjes später übernahm, hing die Decke ein paar Zentimeter niedriger. Dabei war doch Müller noch als Vorsitzender des RAG-Aufsichtsrats der Chef von Tönjes.

Der Job des RAG-Stiftungschefs gehört zu den einflussreichsten Positionen der Ruhrwirtschaft. Als Evonik-Mehrheitsaktionärin mischt die Stiftung beim Chemiekonzern und BVB-Sponsor mit. Zudem ist sie am Wohnungsunternehmen Vivawest und an etlichen Mittelständlern beteiligt. Der Stiftungschef steht auch an der Spitze des Evonik-Aufsichtsrats und ist damit verantwortlich für die Besetzung des Vorstands. Aufgrund seiner Erkrankung hatte Müller die Ämter bereits vor vielen Monaten niedergelegt.

Evoniks Vorstandschef Kullmann: „Ohne ihn würde es Evonik überhaupt nicht geben“

Werner Müller bei der Verleihung des Landesverdienstordens durch Ministerpräsident Armin Laschet im April 2018.
Werner Müller bei der Verleihung des Landesverdienstordens durch Ministerpräsident Armin Laschet im April 2018. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Ohne ihn würde es Evonik überhaupt nicht geben“, sagt Christian Kullmann, der Vorstandschef von Evonik, wenn er Müllers Verdienste würdigt. Kullmann gilt als Müllers Ziehsohn in der Firma. Als Müllers Stabschef war er Stufe für Stufe in der Evonik-Hierarchie aufgestiegen – Kommunikationschef, Generalbevollmächtigter, Vorstand, Konzernchef. Kullmanns Kontakt zu seinem Mentor Müller blieb auch nach Ausbruch der Erkrankung eng. Es ist davon auszugehen, dass der amtierende RAG-Stiftungschef Tönjes und Kullmann Müllers Vermächtnis bewahren und in die Zukunft tragen wollen.

„Es gibt eine einfache Regel“, sagte Müller einmal. „Du musst am Ende mehr Freunde als Feinde haben. Und die Freunde müssen einflussreicher sein.“ Im Dezember 2018, als Deutschlands letzte Steinkohlenzeche Prosper-Haniel in Bottrop den Betrieb beendete, stand Werner Müller in der ersten Reihe neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Danach zog sich Müller weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Es bleiben die vielen Spuren, die er hinterlässt.

Werner Müller - sein Leben in Bildern

Werner Müller, der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende der Kohlestiftung RAG, ist am Montagabend gestorben. Das bestätigte ein Sprecher von Evonik. Das Portraitfoto wurde bei einem Interviewtermin mit unserer Redaktion im Jahr 2017 aufgenommen.
Werner Müller, der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende der Kohlestiftung RAG, ist am Montagabend gestorben. Das bestätigte ein Sprecher von Evonik. Das Portraitfoto wurde bei einem Interviewtermin mit unserer Redaktion im Jahr 2017 aufgenommen. © Funke Foto Services | Fabian Strauch
Werner Müller als Arbeitsminister: zusammen mit Bundespräsident Roman Herzog stellt sich am 27.10.1998 in der Villa Hammerschmidt in Bonn die damals neue Bundesregierung den Fotografen.
Werner Müller als Arbeitsminister: zusammen mit Bundespräsident Roman Herzog stellt sich am 27.10.1998 in der Villa Hammerschmidt in Bonn die damals neue Bundesregierung den Fotografen. © dpa
Müllers Platz am Kabinettstisch war neben dem des Bundesfinanzministers. 1998 war dies Oskar Lafontaine.
Müllers Platz am Kabinettstisch war neben dem des Bundesfinanzministers. 1998 war dies Oskar Lafontaine. © dpa | Gero Breloer
Müller, hier mit Bundesumweltminister Jürgen Trittin und Bundeskanzler Gerhard Schröder, war im Jahr 2000 an dern Verhandlungen zum Energiekonsens beteiligt. . Die Bundesregierung und die führenden Energieversorgungsunternehmen haben sich auf eine Laufzeit von 32 Jahren für Atomkraftwerke geeinigt.
Müller, hier mit Bundesumweltminister Jürgen Trittin und Bundeskanzler Gerhard Schröder, war im Jahr 2000 an dern Verhandlungen zum Energiekonsens beteiligt. . Die Bundesregierung und die führenden Energieversorgungsunternehmen haben sich auf eine Laufzeit von 32 Jahren für Atomkraftwerke geeinigt. © dpa | Wolfgang Kumm
Als Bundeswirtschaftsminister war Müller häufig in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Hier 2001 mit Ministerpräsident Wolfgang Clement beim Besuch einer Ausstellung über Bergleute im Ruhrgebiet.
Als Bundeswirtschaftsminister war Müller häufig in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Hier 2001 mit Ministerpräsident Wolfgang Clement beim Besuch einer Ausstellung über Bergleute im Ruhrgebiet. © dpa | Torsten Leukert
Werner Müller (rechts) in seinem Amt als Bundeswirtschaftsminister im Jahr 2002 am Kabinettstisch neben Bundesinnenminister Otto Schily, Bundesarbeitsminister Walter Riester und Bundesfinanzminister Hans Eichel (von links).
Werner Müller (rechts) in seinem Amt als Bundeswirtschaftsminister im Jahr 2002 am Kabinettstisch neben Bundesinnenminister Otto Schily, Bundesarbeitsminister Walter Riester und Bundesfinanzminister Hans Eichel (von links). © dpa | Andreas Altwein
Als Vorstandvorsitzender der RAG besuchte Werner Müller 2003 Bergleute in 1000 Metern Tiefe im Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop.
Als Vorstandvorsitzender der RAG besuchte Werner Müller 2003 Bergleute in 1000 Metern Tiefe im Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. © dpa
Hier kommt Müller nach seiner ersten Grubenfahrt aus dem Förderschacht.
Hier kommt Müller nach seiner ersten Grubenfahrt aus dem Förderschacht. © ddp | Torsten Silz
Die RAG wurde 2006 Hauptsponsor des BVB. Hans Joachim Watzke und Reinhard Rauball gaben Müller aus dem Anlass ein Trikot mit seinem Namen darauf.
Die RAG wurde 2006 Hauptsponsor des BVB. Hans Joachim Watzke und Reinhard Rauball gaben Müller aus dem Anlass ein Trikot mit seinem Namen darauf. © dpa | Horst Ossinger
Hier 2006 im Dortmunder Stadion vor der Südtribüne.
Hier 2006 im Dortmunder Stadion vor der Südtribüne. © firo
Hier spielt Werner Müller 2006 mit BVB-Spieler Lars Ricken am Tischkicker.
Hier spielt Werner Müller 2006 mit BVB-Spieler Lars Ricken am Tischkicker. © dpa | Horst Ossinger
Aus RAG wurde Evonik: 2007 informierte Müller die Presse über die Pläne, im folgenden Jahr mit dem neuen Namen, aber ohne den Kohlebereich an die Börse gehen. 
Aus RAG wurde Evonik: 2007 informierte Müller die Presse über die Pläne, im folgenden Jahr mit dem neuen Namen, aber ohne den Kohlebereich an die Börse gehen.  © dpa | Bernd Thissen
2016 war Werner Müller Vorsitzender der RAG-Stiftung. 
2016 war Werner Müller Vorsitzender der RAG-Stiftung.  © Roland Weihrauch | dpa
Hier steht Werner Müller in seiner Zeit als Evonik-Chef vor der Kulisse der Stadt Essen.
Hier steht Werner Müller in seiner Zeit als Evonik-Chef vor der Kulisse der Stadt Essen. © imago
Werner Müller auf Zollerverein: Hier wurde 2016 im Rahmen einer Pressekonferenz das Ende des deutschen Steinkohlebergbau verkündet.
Werner Müller auf Zollerverein: Hier wurde 2016 im Rahmen einer Pressekonferenz das Ende des deutschen Steinkohlebergbau verkündet. © imago
2017 war das zehnjährige Bestehen der Evonik AG Thema. Werner Müller als Evonik-Aufsichtsratsvoristzender an seinem Schreibtisch in Essen.
2017 war das zehnjährige Bestehen der Evonik AG Thema. Werner Müller als Evonik-Aufsichtsratsvoristzender an seinem Schreibtisch in Essen. © dpa | Roland Weihrauch
In seinem Büro in der RAG Stiftung zeigt Müller ein Stück Steinkohle.
In seinem Büro in der RAG Stiftung zeigt Müller ein Stück Steinkohle.
2018 wurde Müller durch Ministerpräsident Armin Laschet mit dem Landesverdienstorden geehrt.
2018 wurde Müller durch Ministerpräsident Armin Laschet mit dem Landesverdienstorden geehrt. © Funke Foto Services | Fabian Strauch
Werner Müller bei seiner Rede nach der Verleihung des Preises.
Werner Müller bei seiner Rede nach der Verleihung des Preises. © Funke Foto Services | Fabian Strauch
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