Essen. . Der scheidende RAG-Stiftungschef Werner Müller hat das Ruhrgebiet mit Tatendrang und Querdenkerei geprägt.
Erst vor wenigen Wochen hat Werner Müller ein neues Büro bezogen. Die schöne Adresse auf dem Essener Zollverein-Gelände lautet „Im Welterbe 10“. Beim Start in veränderter Umgebung wirkt Müller voller Tatendrang. Das wichtige Jahr 2018 steht bevor, die beiden letzten deutschen Steinkohlenzechen schließen. Als Chef der RAG-Stiftung ist Müller gewissermaßen der Zeremonienmeister. Doch nicht nur über Abschiede spricht er, sondern auch über Anfänge – zum Beispiel über Firmengründer, die er unterstützen will. Nebenbei erwähnt Müller noch, wie er den Wechsel der früheren NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in den Aufsichtsrat des Bergbaukonzerns RAG angebahnt hat. Kurzum: Müller wirkt wie ein Mann, der mit Spaß bei der Sache ist.
Doch bald schon wird Müller das Büro wieder verlassen – viel früher, als er es wohl selbst geahnt hat. Eine schwere Erkrankung zwingt den 71-Jährigen zum Aufhören. Sein Amt als RAG-Stiftungschef gibt er ab, auch die Aufsichtsratsmandate bei Evonik und der RAG legt er nieder. Als Nachfolger bei der Stiftung ist der bisherige RAG-Chef Bernd Tönjes auserkoren.
Bernd Tönjes soll Aufsichtsrat von Evonik führen
Es gilt als sicher, dass Tönjes auch Aufsichtsratschef des Chemiekonzerns Evonik wird. „Meine schwere Erkrankung erlaubt es mir leider nicht mehr, meinen Verpflichtungen in der Stiftung und in den Aufsichtsräten weiter nachzukommen“, sagt Müller. Damit endet eine Ära im Ruhrgebiet.
Der Chefposten bei der RAG-Stiftung ist eine der einflussreichsten Positionen der Ruhrgebietswirtschaft. Als Mehrheitsaktionärin von Evonik mischt die Stiftung beim Essener Chemiekonzern mit weltweit rund 36 000 Mitarbeitern mit. Der Stiftungschef steht auch an der Spitze des Evonik-Aufsichtsrats und ist verantwortlich für die Besetzung des Vorstands. Zudem ist die Stiftung am Wohnungsunternehmen Vivawest sowie an zahlreichen Mittelständlern beteiligt.
Besuch in Müllers neuem Büro auf Zollverein
Eigentlich hätte Müllers Vertrag als Stiftungschef eine Laufzeit bis Ende 2022 gehabt. Eine entsprechende Verlängerung kam, als Müller 70 war. Dass er nicht wie Krupp-Patriarch Berthold Beitz auch noch mit fast 100 Jahren an der Spitze einer Stiftung stehen würde, hat Müller wohl geahnt. „Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Gesundheit beglückt bin, die er ja offensichtlich gehabt haben muss“, sagte Müller vor ein paar Monaten. Gerne erzählte der Mann aus Mülheim von seinen Rotwein- und Zigarrenrunden während der Zeit als Wirtschaftsminister im rot-grünen Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder.
Wer Müller in seinem neuen Büro auf Zollverein besuchte, der konnte auf dem Schreibtisch neben John Eliot Gardiners Bach-Biografie auch zwei Zigarillo-Schachteln liegen sehen. Aus der Stereoanlage tönte barocke Klaviermusik von Jean-Philippe Rameau – der im 17. Jahrhundert geborene französische Komponist gilt heute als Harmonie-Revolutionär. Auch Müller bricht gerne bestehende Strukturen auf, liebt die Querdenkerei. Als junger Mann legte er in einem Buch dar, wie sich das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch entkoppeln lässt. Bei seinem damaligen Arbeitgeber RWE kam das nicht gut an.
„Das strotznormale Unternehmen“
Was oft abstrakt als Strukturwandel bezeichnet wird, ist bei Werner Müller konkret. Er hat den Abschied von den Zechen organisiert, ohne dass es zu einem Aufstand der Beschäftigten kam, und ein von ihm konstruiertes Stiftungsmodell soll dauerhaft verhindern, dass Steuerzahler für Folgekosten nach der Schließung der Bergwerke aufkommen müssen. Auch der Chemiekonzern Evonik in seiner jetzigen Aufstellung ist in weiten Teilen das Werk von Müller. Ein „strotznormales Unternehmen“ wollte er schaffen, wie er es selbst einmal formulierte. „Das heißt vor allem, ohne Subventionen auszukommen.“
Die Evonik-Hauptversammlung am 23. Mai will Müller ein letztes Mal als Aufsichtsratschef leiten. Einen Tag später ist Schluss.