Mülheim. . Betriebsrat und IG Metall wollen den Siemens-Plan, 640 Arbeitsplätze zu streichen, nicht hinnehmen. Der Konzern bietet Freiwilligenprogramm an.

Es ist gerade einmal gut zwei Jahre her, dass die Siemensianer in Mülheim 850 Holzkreuze aufstellten und gegen den geplanten Stellenabbau im Dampfturbinen- und Generatorenwerk protestierten. Am Ende kamen sie mit einem blauen Auge davon: Deutlich weniger Jobs fielen weg. Doch nun droht der Konzern erneut mit Kahlschlag: 640 Mülheimer Arbeitsplätze sollen der Neuaufstellung des schwächelnden Kraftwerkgeschäfts zum Opfer fallen.

Um zehn Uhr heute Vormittag sollen die Beschäftigten Einzelheiten erfahren. Die Betriebsversammlung findet ausgerechnet in einer Sporthalle statt, die nach dem Essener Energiekonzern Innogy benannt ist. Das Unternehmen steht für Strom- und Wärmeerzeugung aus erneuerbaren Energien wie Wind, Sonne und Wasser – ausgerechnet die Energieträger, die Siemens das Leben schwer machen. Der Markt für große Turbinen und Generatoren, wie sie in Mülheim entwickelt und gebaut werden, ist weltweit eingebrochen.

Kraftwerksgeschäft weltweit eingebrochen

Siemens-Chef Joe Kaeser beschrieb den Abwärtstrend noch vor einigen Tagen so: Wurde für das Jahr 2010 noch ein globaler Bedarf von 300 großen Gasturbinen prognostiziert, gab es 2012 nur noch 212 Bestellungen. 2017 waren es nur noch 122. „Prognosen zufolge wird der Markt in einer Größenordnung von ungefähr 110 verharren. Das Marktvolumen hat sich nahezu halbiert, die Überkapazitäten sind jedoch weiter dramatisch. Und das hat gravierende Folgen für unsere Fertigung und für unser Servicegeschäft“, sagte Kaeser.

Seine Antwort auf den Strukturwandel in der Branche steht nach Wochen der Spekulationen und Ungewissheiten nun fest: Tausende Stellen will er streichen, Werke schließen und verkaufen. Auch der Standort Mülheim muss wieder bluten. Dabei unterstreicht Arbeitsdirektorin Janina Kugel am Nachmittag die herausragende Stellung des Werks als Weltkompetenzzentrum für die Dampfturbine. „Wir brauchen Wasseranschluss, schwere Hebekräne und Wuchtbunker“, sagt Kugel. Über diese Infrastruktur verfügt Siemens in Mülheim – und nur in Mülheim.

„Massive Überkapazität an Arbeitsstunden“

Nach den Plänen des Vorstands sollen an der Ruhr künftig auch große Elektromaschinen gebaut werden, die bislang im Berliner Dynamowerk vom Band liefen. Mit einem Beschäftigungsaufbau sei diese Verlagerung aber nicht verbunden, stellte Jürgen Brandes, Leiter der Division Industrielle Prozesse, klar. „In Mülheim gibt es eine „massive Überkapazität an Arbeitsstunden“, sagte er.

6900 Stellen will der Konzern nun bis zum Jahr 2020 streichen – rund die Hälfte davon in Deutschland. Betriebsbedingte Kündigungen will Personalchefin Janina Kugel möglichst vermeiden, schließt sie aber nicht aus. „Wir sind nach wie vor interessiert an einem konstruktiven Dialog mit den Arbeitnehmern und wollen das so durchführen, dass wir ohne betriebsbedingte Kündigungen auskommen“, sagte die Arbeitsdirektorin. „Wir setzen ganz stark auf Freiwilligenprogramme.“ Zunächst gehe es darum, in Gesprächen zu klären, wie viele Beschäftigte Angebote wie etwa den Wechsel in andere Bereiche oder zur Weiterqualifikation annehmen. Erst danach lässt sich nach Kugels Angaben absehen, ob betriebsbedingte Kündigungen nötig sein werden.

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Minister Pinkwart: Im Sinne von NRW

Die Verhandlungen mit dem Betriebsrat will Kugel unverzüglich aufnehmen und bis September 2018 abgeschlossen haben. Die Fronten sind aber verhärtet. Die Gewerkschaft IG Metall lehnt die Streichpläne und Werksschließungen als „breit angelegten Angriff auf die Arbeitnehmerseite“ ab und kündigt harten Widerstand an. „Ein Stellenabbau in dieser Größenordnung ist angesichts der hervorragenden Gesamtsituation des Unternehmens völlig inakzeptabel“, sagte Gewerkschaftsvorstand und Siemens-Aufsichtsrat Jürgen Kerner am Donnerstag. „Er kommt aus Sicht der IG Metall nicht einmal als ernsthafte Diskussionsgrundlage in Betracht.“

NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart äußerte Verständnis für die Neuaufstellung des Siemens-Kraftwerksgeschäfts: „Es ist gut, dass Siemens seine Zukunft weiterhin in Nordrhein-Westfalen sieht“, sagte der FDP-Politiker dieser Zeitung. „Die Entscheidungen bedeuten für die betroffenen Beschäftigten harte Einschnitte, aber das Bemühen um Wettbewerbsfähigkeit ist grundsätzlich im Sinne der Mitarbeiter und des Industriestandorts Nordrhein-Westfalen. Die Verantwortung hierfür liegt beim Unternehmen.“