Wolfsburg. Der Abgasskandal erschüttert nicht nur den Konzern VW, sondern das allgemeine Vertrauen in die deutsche Industrie, zeigt das gewaltige Medienecho.
Glaubwürdigkeit. Für nichts weniger steht „Made in Germany“. Und diese Glaubwürdigkeit ist schwer erschüttert, nicht nur in Deutschland, wo der Volkswagen-Konzern mindestens seit der Erfindung des „Käfers“ zur mobilen Identifikationsfläche einer ganzen Nation wurde. Nein, auch in der ganzen Welt schaut man kopfschüttelnd nach Wolfsburg. „Wenn es etwas gibt, was die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht haben, ist es, dass sie zum Club der „good guys“ gehören“, kommentiert etwa die schwedische Zeitung „Svensk Dagbladet“.
Bislang habe es ein Verständnis darüber gegeben, dass deutsche Unternehmen nicht mit Manipulationen und Betrug zu tun haben. Dass so etwas nur in den „anderen Ländern“ vorkomme. Diesen Ruf von „Made in Germany“ sehen Kommentatoren, Analysten und Wirtschaftsexperten nun stark beschädigt. Neben der britischen „Times“ und der „New York Times“ findet die italienische „La Stampa“ die deutlichsten Worte: „Volkswagen, „Das Auto“, wie die Werbung deklamiert, war immer der Stolz und das Symbol der deutschen Industrie. Nun droht der Skandal, der sie (die Volkswagen AG) fortreißt, den guten Namen von ganz Made in Germany zu untergraben.“
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Wenn es nicht gelingt, den Imageschaden bald unter Kontrolle zu kriegen, drohen langfristige Folgen für die deutsche Wirtschaft: „Während Deutschlands Wirtschaft Griechenland, der Euro-Krise und der chinesischen Konjunkturflaute widerstand, könnte sie jetzt dem größten Absturzrisiko seit langem entgegensehen. Die Ironie dabei ist, dass die Bedrohung nun eher von innen als von außen kommt“, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom der ING-Diba-Bank. Und Marktanalyst Michael Hewson vom britischen Broker CMC Markets fürchtet, falls die Manipulationen bei den Abgastests kein Einzelfall gewesen sind, dass „weltweites Vertrauen verspielt“ würde. Und auch so werde es einiges an Arbeit kosten, „die Macken in der Marke ‘Made in Germany’ wieder zu reparieren“.
Vom Schandmal zum Qualitätsversprechen
Dabei war es sogar mal so, dass „Made in Germany“ zunächst als Kennzeichen für mindere Qualität erfunden wurde. Von wem? Von den Briten im Jahr 1887, die stempelten als ersten den Begriff auf eine Kiste mit Gütern. Der Kunde sollte sofort wissen: Ramsch. Das hatten sich britische Parlamentarier so ausgedacht, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln und weil sie sicher waren, dass die Kunden britische Güter bevorzugen würden.
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Tatsächlich war die deutsche Wirtschaft und Produktion in puncto Wertarbeit seit der Industrialisierung hinten dran. Erst der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) entwickelte gemeinsame Industriestandards, legte fest, welche Materialien zu verwenden seien, wie die Qualität der Verarbeitung sichergestellt wurde und welche Standards bei der Produktion gelten sollten. So entstand die deutsche Norm, vom Deutschen Institut für Normung (DIN) seit 100 Jahren überwacht. Der deutsche Ingenieur und die deutsche Norm sorgten dafür, dass „Made in Germany“ vom Schandzeichen zum weltweit respektierten Qualitätsmerkmal wurde.
Denn „Made in Germany“ ist mehr als Millimeterklauberei; es ist ein Versprechen an die Welt, das hier anständig gearbeitet und gewirtschaftet wird. „Made in Germany“ schafft seit 120 Jahren ein globales Vertrauen, das nicht jeden Tag aufs Neue unter Beweis gestellt werden muss: Deutsche Waren oder Dienstleistungen sind nicht billig, aber preiswert, weil sie zuverlässiger funktionieren als die Konkurrenz: Qualität, Leistung, faires Miteinander, seit einigen Jahren auch im Bereich des Umweltschutzes. Die verrückten Deutschen haben die Ökologie schließlich erfunden und die weltweit erste Partei dazu.
Der VW-Skandal bringt nicht nur den Konzern ins Rutschen
Das globale Versprechen lautet: Wir Deutschen sind keine begnadeten Tango-Tänzer, wir sind nicht die Kreativsten, Lustigsten, Unkompliziertesten, Trickreichsten – aber wir sind die Zuverlässigsten. „Made in Germany“ ist nicht nur die Seele der deutschen Industrie, sondern der Nachkriegsdeutschen insgesamt. Es gilt, was den ehrbaren Kaufmann ausmacht, Leitbild der Hanseaten. Die küstenverbundene Kanzlerin übersetzt mit ihrem Stil dieses „Made in Germany“ in die Politik.
Insofern ist der VW-Skandal kein Vergehen, das nur einen Konzern betrifft, eine Branche oder die ganze deutsche Industrie. Die Schlittereien im DAX geben einen Hinweis darauf, das hier mehr ins Rutschen gekommen ist als ein Image. Wo VW als strahlendster Stern der deutschen Wirtschaft Verantwortung hätte beweisen müssen, wurde Ignacio-Lopez-mäßig wegen ein paar lumpiger Euro das kostbarste Gut der deutschen Industrie aufs Spiel gesetzt: Ihre Glaubwürdigkeit ist massiv beschädigt durch ein paar Trickser, die 100 bis 200 Euro für größere Abgasfilter sparen wollten.
Winterkorns Rücktritt nur der Anfang von Reparaturarbeiten
Mag der gestern vom Vorstand zurückgetretene Martin Winterkorn auch nichts gewusst haben von den Umtrieben in den USA, so steht der 68-Jährige gleichwohl für eine in seiner Generation weitverbreitete Haltung: Umweltschutz gilt eigentlich doch als Luxus-Schnickschnack, der dem Geschäft im Wege steht. Buddy-Business und Patriarchen-Gedröhne schlägt erwachsene Umgangsformen.
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Unsere Kinder werden vielleicht nicht mehr VW, BMW, Audi, Mercedes kaufen, sondern Autos von Google, Apple oder Amazon. Motoren kann inzwischen jeder, aber Software dahinter und die Plattform eben nicht. Wolfsburg und Ingolstadt als Filialen des Silicon Valley? Das ist nicht ausgeschlossen. Und hier liegt das zweite kulturelle Problem der Generation Winterkorn: Sie hat die disruptive Kraft der Digitalisierung ebenso wenig verstanden und verinnerlicht wie die der Ökologie.
Eitelkeit, Arroganz und Trickserei haben die Briten um ihre Weltmarktführerschaft gebracht hat und den Aufstieg der deutschen Industrie zu globalem Ansehen ermöglicht. Eben diese Todsünden sind es, die nun den Ruf Deutschlands in Gefahr bringen. Winterkorns Rücktritt ist nun der Anfang von Reparaturarbeiten, die Jahre dauern und die ganze deutsche Gesellschaft beschäftigen werden.