Essen. Bahn, Post, Kitas, Einzelhandel: In den ersten fünf Monaten fielen durch Streiks in Deutschland mehr Arbeitsstunden aus als 2013 und 2014 zusammen.
Bahn, Post, Kitas, Versicherungen, Einzelhandel – Verbraucher bekommen den Eindruck, in einer Streikrepublik zu leben. Die gerade über das Land schwappende Arbeitskampfwelle ist nach Einschätzung von Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), aber kein neuer Trend, sondern ein Stück weit auch Zufall.
„Wir erleben gerade, dass aktuelle Tarifverhandlungen mit Altfällen wie die bei der Bahn oder bei Amazon zusammentreffen“, sagte Lesch dieser Zeitung. „Das kann sich schnell wieder ändern.“
Schon 350.000 Arbeitstage ausgefallen
In der Tat sind aber laut Bundesagentur für Arbeit in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres bundesweit rund 350.000 Arbeitstage ausgefallen – mehr als 2013 und 2014 zusammen. „2015 könnte ein Rekord-Streikjahr werden“, meint Lesch. Den Titel trägt bislang das Jahr 2006, als es zu massiven Arbeitsniederlegungen im öffentlichen Dienst kam und auch die Ärzte streikten.
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Auch wenn die aktuelle Ballung der Streiks objektiv mit den Terminen auslaufender Tarifverträge zusammen fällt und sich die Konflikte bei der Bahn und Amazon schon seit 2014 wie Kaugummi ziehen, sieht der IW-Experte einen Wandel in den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. „Die kleinen Spartengewerkschaften treiben die großen. Verdi muss da seit 2008 mitziehen. Das führt zum mehr Eskalation“, sagt Lesch.
Während in den Riesen-Branchen wie Metall, Stahl und Chemie die Tarifverhandlungen weitgehend geräuschlos über die Bühne gingen, greife Verdi zum Mittel des Arbeitskampfs, um Verbesserungen für vergleichsweise kleine Berufsgruppen wie Sicherheitspersonal, Schleusenwärter und Erzieherinnen durchzusetzen. Lesch: „Verdi hat einige Berufsgruppen verloren, verfügt aber immer noch über mächtige Berufsgruppen, die sie in den Streik führen kann.“ Dabei, so der Tarifexperte, sei es „völlig legitim“, dass Verdi die schwelenden Tarifauseinandersetzungen nutze, um Mitglieder zu werben. Im Herbst steht der Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft zur Wahl.
Streiks mit viel Aufmerksamkeit
Anzeichen, dass sich Deutschland zu einer Streiknation wie Frankreich oder Italien entwickelt, sieht auch das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) nicht. „Wir erwarten in diesem Jahr eher mehr als weniger Streiks im historischen Vergleich“, sagt Sprecher Rainer Jung. Die Geschichte aber zeige, dass es Dekaden mit mehr und weniger Streiks gegeben habe.
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Waren die 70er-Jahre durch Streiks im öffentlichen Dienst, beim Stahl und durch Aussperrungen gekennzeichnet und die 80er durch den Kampf um die 35-Stunden-Woche geprägt, sei es in den 2000er-Jahren vergleichsweise ruhig an der Tariffront gewesen. Jung: „Deshalb gibt es jetzt wieder gefühlt viele Streiks, zumal sie sich von der Industrie in die Dienstleistungsbereiche verlagert haben.“ Arbeitsniederlegungen bei Bahn und Post spürten die Menschen eher als einen Ausstand im Stahlwerk. Privatisierungen der Staatsbetriebe und der Trend, dass sich Firmen aus der Tarifbindung verabschieden, seien Gründe dafür, dass es in diesen Branchen auch künftig mehr Konflikte geben werde.
Die akuellen Auseinandersetzungen
Deutsche Bahn: Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) will auch einen Tarifvertrag für die Zugbegleiter verhandeln. Das lehnt die Bahn ab, aber auch die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Die GDL reagiert mit der neunten Warnstreikwelle.
Deutsche Post: Der Tarifvertrag würde eigentlich noch laufen. Doch aus Protest gegen die Gründung von Regionalgesellschaften für die Paketzustellung mit niedrigen Tarifstandards hat Verdi den Tarifvertrag vorzeitig gekündigt und zu Warnstreiks aufgerufen.
Kitas: Bundesweit will Verdi zehn Prozent mehr Gehalt für Erzieher durchsetzen. Die Tarifverhandlungen sind gescheitert. Jetzt gibt es auch in NRW Streik.
Handel: Für die Beschäftigten im Einzel- und Großhandel fordert Verdi 5,5 Prozent mehr Gehalt. In NRW hat es die ersten Arbeitsniederlegungen gegeben.
Versicherungen: 5,5 Prozent mehr fordert Verdi auch für die 174 000 Versicherungsangestellten im Innendienst. Vor der dritten Verhandlungsrunde am 22. Mai gab es erste Warnstreiks.
Lufthansa: Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit hat sich mit der Lufthansa auf eine Schlichtung im Tarifstreit geeinigt. Bis mindestens Ende Juli soll es keine weiteren Streiks geben.
Amazon: Im Kampf um die Eingruppierung in den Einzelhandels-Tarifvertrag für die Beschäftigten des Internetversenders hat Verdi Warnstreiks vorerst gestoppt.