Essen. Die Rente mit 63 stelle manche Betriebe „vor riesige Probleme“, sagt BDI-Präsident Ulrich Grillo. Er möchte die Beschäftigten länger im Job halten.
Der Duisburger Familienunternehmer Ulrich Grillo (55) steht seit Anfang 2013 an der Spitze des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Gerade hat seine zweite Amtszeit begonnen. Im Interview mit Andreas Tyrock, Stefan Schulte und Ulf Meinke spricht Grillo über den Euro, den Soli und die Agenda 2010 – und er sagt, warum Steuersenkungen derzeit nicht auf seinem Wunschzettel stehen.
Herr Grillo, machen Sie sich Sorgen um Europa und den Euro?
Ulrich Grillo: Ich bin nach wie vor ein Euro-Freund und ein großer Anhänger der europäischen Idee. Aber natürlich bin ich auch besorgt, denn die Herausforderungen sind gewaltig.
Die Politik der Europäischen Zentralbank schwächt den Euro im Verhältnis zum Dollar. Davon profitiert die exportstarke deutsche Industrie.
Grillo: Kurzfristig mag das so sein, aber wir sollten die langfristigen Konsequenzen bedenken. Die größten Fehler werden gemacht, wenn es einem gut geht, hat Alfred Herrhausen einmal gesagt. Europa muss jetzt die Weichen stellen für Wachstum und Schuldenabbau. Die EZB kann die Erholung im Euroraum nicht allein vorantreiben.
Wie steht es um Griechenland? Sollten dem Land zumindest teilweise die Schulden erlassen werden?
Grillo: Das würde doch nichts an der Situation im Land ändern. Griechenland braucht vor allem Reformen, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt.
Halten Sie einen Austritt des Landes aus der Eurozone für realistisch?
Grillo: Griechenland gehört zum Euro-Raum. Wie sich Spanien und Irland entwickelt haben, zeigt doch, dass es sich lohnt, seine Hausaufgaben zu machen. Sollte Griechenland nun auf halbem Weg umkehren, wäre das dramatisch. Aber ich setze auf die Vernunft der handelnden Akteure.
Lassen Sie uns über Deutschland sprechen. Sind Sie zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung?
Grillo: In der Außenpolitik stehen wir voll hinter dem Kurs von Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier. Anders in der Innenpolitik: Zu Beginn der Großen Koalition ist viel passiert, was der Wirtschaft nicht gefallen hat. Mindestlohn, Mütterrente und Rente mit 63 haben nicht gerade Wachstumsimpulse gegeben.
Trotzdem sind die Konjunktur- und Arbeitsmarktzahlen vergleichsweise gut.
Grillo: Oft hören wir das Argument: Euch geht’s doch gut, warum jammert ihr? Aber das ist kein Zweck-Jammern. Uns geht es jetzt auch so gut, weil die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 gewirkt haben. Darauf darf sich die Politik nicht ausruhen. Wenn es einem gut geht, ist man geneigt, es allen recht zu machen. So entstehen Entscheidungen, die in der Zukunft schaden.
Wie sehr ärgert Sie die Rente mit 63?
Grillo: Sie sendet das falsche Signal und stellt manche Betriebe vor riesige Probleme. Oft gehen wertvolle Fachkräfte verloren, deren Erfahrung nicht leicht zu ersetzen ist. Wir sollten im Gegenteil über Modelle nachdenken, die dazu beitragen, dass die Menschen länger im Arbeitsleben bleiben wollen und dafür natürlich angemessen honoriert werden. Auf motivierte Mitarbeiter sollten wir nicht verzichten müssen. Es gibt auch solche, die erst mit 70 Jahren in Rente gehen wollen.
Sie sprechen sich klar dafür aus, mehr qualifizierte Zuwanderer ins Land zu holen. Warum?
Grillo: Uns fehlen allein bis 2020 unter anderem durch das Altern der Bevölkerung rund sieben Millionen Arbeitskräfte. Zuletzt haben wir in Deutschland knapp 440.000 Zuwanderer pro Jahr gezählt, die dauerhaft bleiben. Das ist erfreulich, wird aber bei weitem nicht ausreichen, um unseren Wohlstand zu sichern. Daher sollten wir uns die Modelle von Ländern, die Kriterienkataloge für eine gesteuerte Zuwanderung erarbeitet haben, sehr genau anschauen.
Und doch lassen sich Probleme in Sachen Integration nicht leugnen.
Grillo: Integration ist nicht immer einfach, viel hängt von der Sprache und einem anständigen Arbeitsplatz ab. Aber wir alle zusammen können Integration einfacher machen. Wichtig ist, dass wir als Gesellschaft Chancen ermöglichen. Auch meine Vorfahren sind einmal als Zuwanderer nach Deutschland gekommen. Das liegt zwar schon elf Generationen zurück, aber unsere Familiengeschichte prägt mich bis heute.
Der Strukturwandel im Ruhrgebiet bleibt schwierig. Opel hat das Autowerk geschlossen, die Energiekonzerne RWE und Eon haben zu kämpfen, bald schließen die letzten Zechen. Was ist Ihr Bild von der Zukunft der Region?
Grillo: Die Schwerindustrie, die Energiebranche und die Chemieindustrie werden auch in Zukunft ein wichtiger Teil des Ruhrgebiets sein. In Duisburg befindet sich der größte Stahlstandort Europas. Es gibt aber große Herausforderungen. Der Wandel ist rasant. Die Energieversorger benötigen ein neues Geschäftsmodell. Aber große Veränderungen sind nicht neu für das Ruhrgebiet. Wir können Strukturwandel. Das haben wir oft bewiesen.
Sind Sie ein Lokalpatriot?
Grillo: Ich bin von Herzen einer aus dem Ruhrgebiet. Aber auch ganz nüchtern betrachtet: Das Ruhrgebiet ist nach wie vor eine der innovativsten Regionen Deutschlands.
Wie steht es um den Gründergeist im Ruhrgebiet?
Grillo: Er steckt uns sozusagen in der DNA. Menschen wie Haniel und Krupp haben das Ruhrgebiet groß gemacht. Sie sind unternehmerische Risiken eingegangen, haben Geld in die Hand genommen, um hier etwas aufzubauen. Heute würde man wohl von Start-ups sprechen.
Die neuen Bundesländer haben viele Jahre lang vom Soli profitiert. In NRW dagegen bröckeln Straßen und Brücken. Ist es Zeit für einen Aufbau West?
Grillo: Es ist gut, dass der Soli in seiner derzeitigen Ausgestaltung zeitlich befristet ist – auch aus ordnungspolitischen Gründen. Aber wir sollten uns Gedanken darüber machen, was danach kommt. Wir brauchen eine Investitionsoffensive für ganz Deutschland. Gerade in NRW gibt es viele Regionen mit großem Bedarf. Auch darüber hinaus gibt es viel zu tun, um Straßen, Brücken und Schienen zu modernisieren oder auszubauen. Ich denke auch an den großen Investitionsbedarf für neue Stromnetze oder die Versorgung mit schnellem Internet durch moderne Breitbandkabel.
Sie fordern ein Konjunkturpaket?
Grillo: Es geht nicht um kurzfristige Programme, die wie ein Strohfeuer wirken. Wir brauchen eine langfristige Investitionsstrategie. Dass Finanzminister Schäuble zehn Milliarden Euro innerhalb von drei Jahren investieren will, ist ein Schritt in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Bei einem Staatshaushalt mit einem Volumen von rund 790 Milliarden Euro müssen zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur möglich sein, ohne das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts aus den Augen zu verlieren. Es geht darum, das Land langfristig zukunftsfähig machen. Investitionen, die wir jetzt tätigen, zahlen sich in einigen Jahren als Dividende aus.
Bei höheren Ausgaben für Investitionen bleibt aber kaum noch Spielraum für Steuersenkungen?
Grillo: Steuersenkungen oder der Abbau der kalten Progression sind derzeit nicht unsere Priorität. Jetzt sollte es um Zukunftsinvestitionen gehen. Wenn wir heute die richtigen Schritte Richtung Wachstum gehen, schaffen wir die Voraussetzungen für Steuerentlastungen in der Zukunft.
Wie wird sich der Mindestlohn auswirken?
Grillo: Der Mindestlohn wird die deutsche Wirtschaft nicht vor die Wand fahren, aber er ist schon ein erheblicher Bremsklotz. Die Situation unterscheidet sich je nach Branche und Region sehr. In der Metallindustrie liegt der Einstiegslohn bei rund 15 Euro pro Stunde. In anderen Industrien oder strukturschwachen Regionen sieht die Lage schon ganz anders aus. Ich sehe auch das grundsätzliche Problem, dass wir durch den gesetzlichen Mindestlohn das deutsche Erfolgsmodell der Sozialpartnerschaft in Frage stellen. Das Land ist bisher gut damit gefahren, Löhne und Gehälter durch Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeber auszuhandeln.
Arbeitsministerin Nahles plant auch eine neue Arbeitsstättenverordnung. Dabei wird unter anderem diskutiert, ob Toiletten oder Kopierräume in Unternehmen immer ein Fenster benötigen. Befürchten Sie eine neue Regelungswelle?
Grillo: Frau Nahles sollte jedenfalls sehr darauf achten, die Unternehmen nicht mit unnötigen Vorgaben zu belasten.
Ist die Ministerialbürokratie zu weit weg von der alltäglichen Arbeit in den Betrieben?
Grillo: Das kann ich nicht beurteilen, aber für mich selbst stelle ich fest, wie gut es mir tut, regelmäßig im Betrieb zu sein, auf dem Werksgelände oder mit Mitarbeitern in der Kantine.
Wechsel von der Politik in die Wirtschaft sind umstritten. Der frühere Kanzleramtschef Ronald Pofalla ist jetzt bei der Bahn, die Staatssekretärin Katherina Reiche will auf einen hoch dotierten Lobbyposten wechseln. Geht das in Ordnung?
Grillo: Grundsätzlich sollten wir die Durchlässigkeit von Politik und Wirtschaft erhöhen. Durch den Austausch profitieren beide Seiten. Dass bei Regierungsmitgliedern über bestimmte Wartezeiten vor dem Beginn der neuen Tätigkeit gesprochen wird, ist nachvollziehbar. Ich plädiere dabei für Einzelfallentscheidungen, pauschale Vorgaben helfen nicht weiter.
Sie stehen nun mehr als zwei Jahre an der Spitze des BDI. Wer hat sich seitdem mehr verändert – Ulrich Grillo oder der BDI?
Grillo: Natürlich prägt ein Amt den Menschen. Aber ich hoffe, dass ich immer noch derjenige bin, der ich auch vor meinem Amtsantritt war. Generell stelle ich fest, dass ich als BDI-Präsident mehr bewegen kann, als ich gedacht hätte.