Essen. Die IG Metall sammelt Fälle älterer Arbeitsloser, die durch die Renten-Regelungen benachteiligt werden. Es droht die Prüfung in Karlsruhe.
Dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer deckungsgleich sind, ist bekannt, liegt aber oft im Auge des Betrachters. Ausgerechnet in einem neuen Sozialgesetz, mit dem die Regierung den Menschen etwas Gutes tun will, klafft diese Lücke zwischen geschriebenem und empfundenem Recht aber für jeden sichtbar auseinander. Das Gesetz zur Rente mit 63 erlaubt Menschen mit dem gleichen Schicksal mal den früheren Ruhestand ohne Abschläge und mal nicht. Solche Fälle sammelt nun die IG Metall, womit eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wahrscheinlicher wird.
Der entscheidende Punkt entspringt dem Streit zwischen Union SPD darüber, ob und wie auch Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet werden bei der Frage, ob jemand auf 45 Beitragsjahre kommt und somit abschlagsfrei in Frührente gehen kann. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) setzte durch, dass Zeiten im Arbeitslosengeld I gelten. Nicht nur die Union witterte dadurch aber die Gefahr des Missbrauchs: Arbeitgeber könnten Mitarbeiter schon mit 61 entlassen. Sie hätten dann nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit (maximale Bezugsdauer von ALG I für Menschen ab 58) abschlagsfrei in Rente gehen können. Diese Befürchtung fußte auf der Erfahrung, dass genau dies in den 80er-Jahren massenhaft geschehen ist.
Bundestag-Juristen sehen Gleichbehandlung nicht gegeben
Als Kompromiss kam dabei heraus, dass Arbeitslosenzeiten in den beiden Jahren vor Renteneintritt doch nicht zählen. Soweit hätte man eine Gleichbehandlung gehabt und Missbrauch ausgeschlossen. Die SPD setzte aber eine Ausnahme von der Ausnahme durch: Für Menschen, die kurz vor der Rente ihren Arbeitsplatz verlieren, weil ihre Firma pleite geht. Klingt gerecht – aber nicht für jene, die aus anderen Gründen entlassen werden. Schon die Schließung eines Unternehmensteils fällt nicht unter die Ausnahme. Dass deren Beschäftigte aber ebenfalls alles andere als freiwillig in die Arbeitslosigkeit gehen, ist offensichtlich.
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Die IG-Metall-Zentrale in Frankfurt nennt dafür ein höchst prägnantes Beispiel aus dem Ruhrgebiet: Ein 61-jähriger Opelaner aus dem jüngst geschlossenen Bochumer Werk kann die kommenden Jahre nicht auf die Rente mit 63 anrechnen lassen, schließlich ist Opel nicht insolvent. Der Beschäftigte aus einem Zulieferbetrieb, der deswegen womöglich dichtmacht, dagegen schon.
Bedenken waren der Regierung bekannt
Aus diesem Grund hegte bereits im vergangenen Sommer selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags „schwerwiegende Bedenken an der Angemessenheit der Ungleichbehandlung“, wie seinerzeit die „Süddeutsche Zeitung“ aus dem Bericht zitierte. Die Hausjuristen des Bundestags kamen zu dem Schluss, dass die Ausnahmeregelung bei der Rente mit 63 „wohl gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstoße“.
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In einem internen Schreiben rufen die Juristen des IG-Metall-Fachbereichs Sozialpolitik dazu auf, solche Fälle zu sammeln. Nach Aussage eines Sprechers auf Anfrage dieser Zeitung gibt es bereits einige Fälle. Sie sollen an den DGB Rechtsschutz weitergeleitet werden, der dann eine Klage vor dem Verfassungsgericht anstrengen könnte. Für die Gewerkschaftsjuristen ist der Fall klar: „Diese willkürliche Ungleichbehandlung verstößt nach unserer Überzeugung gegen Artikel 3 des Grundgesetzes“ – den Gleichheitsgrundsatz. So heißt es in einer Bewertung der IG Metall auf der Internetseite des DGB-Rechtsschutz.
Diese juristischen Einwände waren der Regierung bekannt, als sie das Gesetz verabschiedete, sie wurden auch aus den Ministerien geäußert. Am Ende siegte der politische Kompromiss, um das Gesetz rechtzeitig in Kraft treten zu lassen. Womöglich um den Preis, sich erneut vom Verfassungsgericht korrigieren lassen zu müssen.