Perpignan. Beim Griff nach dem Gelben Trikot bei der Tour de France nimmt der Texaner Lance Armstrong keine Rücksicht mehr auf den Teamkollegen Alberto Contador. Sich selbst sieht der Altmeister dabei als Denker und Lenker - und das beinhaltet für ihn auch das Recht zur öffentlichen Kritik.
Lance Armstrong gibt sich diplomatisch, wenn er dieser Tage auf die Kapitänsfrage in seinem Team angesprochen wird. Es gebe mehrere Arten, einen Kapitän zu definieren, sagte er in Montpellier, nachdem er beim Mannschaftszeitfahren bis auf Tausendstelsekunden an das Gelbe Trikot herangefahren war. Es gebe einerseits den stärksten Fahrer in der Mannschaft philosophierte er. Und dann gebe es den mit der meisten Erfahrung, den Denker und Lenker, denjenigen, der die taktischen Entscheidungen trifft.
Abgewatscht
Diese Rolle bei Astana beansprucht Lance Armstrong uneingeschränkt für sich. Das hatte er schon im Frühjahr deutlich gemacht, als er Alberto Contador, den Tour-, Giro- und Vueltasieger mehrfach öffentlich wegen strategischer Patzer kritisierte. Und das machte er jetzt auch wieder klar, als er den Spanier, auf dem Papier die Nummer eins der kasachischen All-Star Formation, laut dafür abwatschte, dass er bei schwierigen Windverhältnissen den Anschluss an die entscheidende Fluchtgruppe verpasst hatte.
„Die Frage ist doch nicht, warum ich in dieser Gruppe war“, kommentierte er die Diskussion darüber, ob sein Coup am Montag, der ihm 19 Sekunden Vorsprung auf Contador einbrachte, Insubordination gewesen sei. „Die Frage ist doch vielmehr, warum jemand nicht in dieser Gruppe war.“
Wenn sein junger Mitfahrer nicht klug genug ist, um solche Gelegenheiten zu nutzen, so der Unterton, habe er es auch nicht verdient, Kapitän zu sein.
Ob Lance Armstrong tatsächlich auch körperlich stärker ist als Contador, muss sich freilich erst noch herausstellen. Beim Prolog in Monaco jedenfalls war Contador deutlich schneller. Und wie gut Armstrong mit seinen 37 Jahren noch die Berge hochkommt, die ab Freitag auf dem Programm stehen, weiß er momentan selbst nicht so genau.
Von der Realität eingeholt
or zwölf Monaten, als er sich zum Comeback entschloss, gab er inzwischen zu, habe er sich es einfacher vorgestellt, nach vier Jahren so schnell mal wieder in die Weltspitze zu fahren. Dann hätte ihn jedoch die Realität eingeholt. „Nach meinen ersten Rennen habe ich gemerkt, Scheiße, das wird ganz schön schwer.“ Spätestens da habe er anerkennen müssen, dass er von seinem Sofa in Austin aus seine Nachfolger unterschätzt habe: „Ich muss gegenüber Alberto oder Carlos Sastre Abbitte leisten. Ich habe, als ich mich zum Comeback entschloss, nicht genügend Respekt vor ihnen gehabt.“
Diesen Respekt hat Armstrong jetzt. Doch seine neue Demut führt nicht etwa zur Bescheidenheit. Die Frage, ob er einen achten Sieg möchte, die ihm in den vergangenen Monaten immer wieder gestellt wurde, fand er stets absurd. Natürlich wolle er gewinnen, antwortete er regelmäßig. Ohne die Absicht zu siegen Rennen zu fahren, wäre für ihn widersinnig.
Ist Armstrong ein Sportsmann?
Alberto Contador hat das wissen können, seit Armstrong in die Mannschaft zurückkehrte. Wahrscheinlich hat der Spanier sich jedoch bislang nicht richtig klargemacht, was dies in letzter Konsequenz bedeutet. Seit Montag ist er gewarnt. Wenn sich Contador auch intern durchsetzen möchte, muss er jede Chance nutzen. Der rote Teppich wird ihm bei Astana gewiss nicht ausgerollt.
Die große Frage vor der Pyrenäenüberquerung ist nun freilich, wie Armstrong wohl reagiert, wenn Contador seine Lektion gelernt hat und mit gleichen Waffen zurück schießt. Wird der Meister ein Sportsmann sein, wie er immer wieder bekundet und sich dem Stärkeren beugen? „Ich habe sieben Tour-Siege, ich habe eine wunderbare Familie, ich habe alles im Leben, was ich mir wünsche“, sagt Armstrong. „Wenn Alberto die Tour gewinnt, ich ihm dabei helfe und Dritter werde, dann bin ich auch nicht unglücklich“, sagt er. Lieber, das ist aber auch klar, wäre es ihm jedoch, wenn es anders käme.