Essen. Eine 18-Jährige beschert Silvio Berlusconi die altbekannten Schlagzeilen. Italien wählt ihn trotzdem. Sind alle Wähler Berlusconis Chauvis? Oder halten wir sie für Chauvis, weil wir in einem grauen Land leben?
Als Berlusconi (wieder mal) einen Platz bei Madame Tussaud erhielt, hat man zuvor rasch noch die Ebenbilder von Nicole Kidman und Britney Spears in den Gruselkeller verfrachtet – um die Hemmschwelle zu erhöhen! Als ich einem italienischen Freund den Witz erzählte, beklagte er nicht nur, dass er einen Bart habe. Er sei vor allem lächerlich falsch: „Kidman? Spears? Viel zu alt für Silvio!”
Seit das Neigungsbündnis Silvios mit der eben 18-jährigen neapolitanischen Freiberuflerin Noemi die Öffentlichkeit erreicht hat, ist es wieder lästig laut um den Mann, den sie „Cavaliere” nennen, Ritter.
Dabei ist das ja nichts Neues bei einem, der zum dritten Mal binnen 14 Jahren Ministerpräsident Italiens ist. Man gähnte ja schon, wenn ein Langeweiler von Paparazzo daherkam: „Blutjunges Ding oberkörperfrei auf Berlusconis Grundstück!” Du liebe Zeit, wo lebt der Mann?! Freizeitfotos von Silvio plus Busen, das ist wie Urlaubsbilder von Merkel im Anorak. Normal.
Der unberechenbare Unterleib
„Wie sollte ich, statt mich zu schämen, dabei nicht stolz sein? Kann ein Mann über seinen eigenen Ruhm erröten?” Das ist zwar Casanova (Venedig, 1770), könnte aber gut Berlusconi 2009 sein. Die Weise, mit der derzeit gegen die Dolce-Vita-Ästhetik eines der reichsten Männer Italiens gestänkert wird, muss ihm ein Rätsel sein. Wer wäre Berlusconi ohne genau dies?
Nun könnte man anführen, auch mit Bilanzfälschung, Entlassung eines missliebigen Fernsehkommentators, eigenwilligem Umgang mit dem Immunitätsgesetz, Prozessverschleppung dürfte man sich einiger Popularität sicher sein. Es ist aber doch mehr der unberechenbare Unterleib. Diese Politik gewordene Eroberungsmasche. Diese quasi unentwegt offene Hose: „Drei Stunden Schlaf reichen mir, dann kann ich wieder drei Stunden Liebe machen”. Ist das am Ende das Geheimnis von Silvio Berlusconis nicht enden wollender Regentschaft? Dass er für all das bewundert wird? Und wir nur neidisch sind oder – laut Berlusconi – Kampfpresse.
Italien! Die Marienverehrung! Die heilige Großfamilie! Die Mama! Ein Kulturbruch? Aber nein. Es gibt ja viele Wege, Frauen anzubeten. Es ist ja auch das Land, wo die Zitronen blühen. Man versteht zu leben, Mann besonders. Wer sich nicht nach einer 20-Jährigen umdreht, ist ein Depp. Sind das Ressentiments, die wir stammeln? Befreit uns der testosterongesteuerte Staatsmann, endlich über Italien wissen zu wollen, was wir uns nie zu fragen getraut haben?
Die Noemi-Affäre
Zum Beispiel: Sind alle Wähler Berlusconis (es sind wegen Noemi laut Umfragen nicht nennenswert weniger) Chauvis? Oder halten wir sie für Chauvis, weil wir in einem grauen Land leben? Einem Land, in dem ein Aktmodell als Gleichstellungsministerin eher schwer zu vermitteln wäre? Wenn Italien eine FAZ besäße, hätte sie Berlusconis Koitus-Kultur vielleicht schon ein Feuilleton gewidmet.
Die Noemi-Affäre macht Italien bei aller Gewöhnung an des Herrschers Hunger heiß. Das liegt daran, dass Frau Berlusconi sie zum Anlass nahm, Addio zu sagen. Ihr Mann hatte sich Jahre zuvor in die einstige Schauspielerin verguckt, als sie auf der Bühne wenig anhatte. Er saß im Theater, das Theater gehörte ihm, naja. Dem Silvio, sagen sie in Rom, dem werden die Dinge ja auch oft sehr leicht gemacht. . .
Das scheint Bikinis wie Kabinettsumbildungen zu betreffen. Die Staatsform, in der Berlusconi lebt, ist unscharf. Absolutismus trifft Parlaments-Folkore. Demokratie ist für ihn etwa wie ein Stoppschild für italienische Autofahrer: allenfalls ein Anhaltspunkt.
Schmuddelige Medienmacht
Die Bauernschläue, mit der er vorgeht, die eitle Breitbeinigkeit, der grinsende Hochmut: Irgendwie kommt das alles sehr cool rüber. Politisch wie sexuell. Berlusconi schminkt sich. Er färbt sich die Haare. Er lässt sich liften. Verdammt, sagen selbst die Jungen, der ist 72 und zieht das einfach durch. Und für die von ganz unten, zuletzt beim Erdbeben, funktioniert das System Berlusconi auch – nach ganz alter Sitte: Wer ab und zu Brot gibt, dem gönnt das Volk seine Spiele an der knospenden Brust einer Vestalin.
Die Gegner, sie gleiten reihenweise ab. Seit Jahren. Tritt er zurück, ist es nur ein Päuschen. Passt die alte Partei nicht mehr, die man sich einst maßschneiderte, gründet man eine neue. Berlusconis Regiment haben Feinde wegen seiner schmuddeligen Medienmacht „Telekratie” genannt und „Pornokratie”. Es bleiben Rufe in jener Wüste, die voll ist von Berlusconis erfrischenden Medien-Oasen: TV-Sender gehören ihm, Buchverlage, Zeitungen, Theater, Filmfabriken.
All das wird Noemi, Valeria, Aida, Angela und die anderen, die den Weg des Cavaliere gekreuzt haben, weniger kümmern. Sie sind jung, sie haben das Leben noch vor sich. Silvio kam, Silvio ging. Italien bleibt – was? Zu wichtig, um Europas Operettenstaat zu sein.