Essen. Interview mit Guntram Schneider über gefährdete Industrieprojekte, sein Verhältnis zu Rüttgers und die Lohnfrage. Mit dem DGB-Chef in NRW sprachen WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz sowie die Leiter der WAZ-Wirtschaftsredaktion, Thomas Wels, und sein Stellvertreter Stefan Schulte.
Herr Schneider, wie ist denn Ihr Verhältnis zu Schwarz-Gelb in NRW?
Guntram Schneider: Wir hatten am Anfang nur Krach, Union und FDP haben gleich mal die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst und das Tariftreuegesetz zerschlagen. Mittlerweile versucht Rüttgers die Fronten zu den Gewerkschaften zu begradigen. Er ist ja kein Dummer.
Also ist Rüttgers doch kein Sozialschauspieler, wie ihn SPD-Landeschefin Hannelore Kraft so gerne nennt?
Schneider: Natürlich gehört bei Rüttgers immer etwas Schauspiel dazu. In jeder Rede zitiert er Johannes Rau. Aber ich würde ihm eine Grundtendenz für soziale Gerechtigkeit nicht absprechen. Mit Rüttgers kann man ein Bier trinken, bei seinem Sozialminister Karl-Josef Laumann kommt noch ein Schnaps dazu.
Sie teilen mit Rüttgers, aber auch der Linken ihre Kritik an den Hartz-Reformen.
Schneider: Da gibt es auch viel zu tun: Wir müssen den Regelsatz anheben, das Schonvermögen erhöhen und die Zumutbarkeitsregeln lockern. Doch ich finde es unerträglich, dass Rot-Grün auf die Hartz-Gesetze reduziert wird. Nach dieser verstaubten Kohl-Ära hat Rot-Grün viel frischen Wind in die Republik gebracht.
Der soziale Zusammenhalt war schon mal größer.
Schneider: Deshalb bin ich schon lange dafür, wie in NRW auch auf Bundesebene ein Integrationsministerium einzurichten. Egal, wer die Wahl gewinnt, das wäre sehr sinnvoll.
Warum?
Schneider: Gerade in dieser Krise zeigt sich, dass wir dringend etwas dafür tun müssen, die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriften zu lassen, sondern sie zusammenzuschweißen. Dabei geht es nicht nur um die Integration der Einwanderer. Wir müssen auch auf die Demographie reagieren. In einer älter werdenden Gesellschaft müssen viele Dinge angepasst werden, etwa der Wohnungsbau.
Sorgen Sie sich nach dem Baustopp des Kohlekraftwerkes in Datteln um den Industriestandort NRW?
Schneider: Ich habe vorgeschlagen, einen runden Tisch mit allen Beteiligten zu bilden, Wirtschaftsministerin Christa Thoben macht das jetzt auch. Solche Großprojekte kann man nicht mit der Brechstange durchsetzen. Künftig muss man die betroffenen Bürger früher einbeziehen und ihre Sorgen wirklich ernst nehmen statt nur so zu tun. Die Zukunft der Industrie ist die Überlebensfrage für das Land.
Geht es in Datteln wirklich um Industriefeindlichkeit oder geht es nicht einfach darum, ob es einen geeigneteren Standort gibt?
Schneider: Den Gegenwind kriegt man überall, ob es um ein Müllheizkraftwerk in Paderborn geht oder um ein Blockheizkraftwerk in irgendeiner Siedlung. Sogar die Kinder der Arbeiter haben eine ablehnende Haltung gegenüber der Industrie, weil sie die Bedingungen im Kopf haben, zu denen ihre Väter gearbeitet haben.
Die Bürger sind Schuld?
Schneider: Nein, daran ist die Industrie auch selbst Schuld, sie verkauft sich zu schlecht. Nur ein Beispiel: Es gibt eine Route der Industriekultur, doch das ist eine Tour durch Industriemuseen in die Vergangenheit. Was wir brauchen, ist eine High-Tech-Route hin zu unseren hochmodernen Technologie-Standorten von heute, um für die industriellen Chancen von morgen zu werben. Die Leute identifizieren sich nicht mehr mit ihrer Industrie. Bayer zum Beispiel hat sich zergliedert und den Teilen neue Namen gegeben. Da geht Identifikation verloren.
Angela Merkel hat Lohnzurückhaltung in der Krise gefordert. Wie finden Sie das?
Schneider: Das wäre genau das Falsche. Gerade, wenn die Exporte wegbrechen, müssen wir doch etwas für die Binnennachfrage tun. Durch die viele Kurzarbeit sind die Löhne gesunken. Die Kurzarbeiter tragen schon jetzt einen Teil der Krise.
Die Gewerkschaften verlieren Mitglieder, wenn die Arbeitslosigkeit steigt. Müssen sie nun wieder offensiver in die Lohnrunden gehen?
Schneider: Ja, sicher. Aber trotzdem werden wir nicht unser Augenmaß verlieren. Gewerkschaften werden heutzutage nicht mehr fundamentalistisch geführt, sondern pragmatisch. Damit sind wir sehr erfolgreich. Der Kita-Streik hat der kleinen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2000 zusätzliche Mitglieder eingebracht. Und auch der Krankenhaus-Streik war erfolgreich.