Essen. Bundeskanzlerin Angela Merkel möchte nach der Wahl die Steuern senken. Doch Juristen halten Steuersenkungen auf Pump schon nach heutigem Recht und künftig erst recht für verfassungswidrig.
Vor vier Jahren, inmitten einer damals als tief empfundenen Wirtschaftskrise, setzte Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) auf harte Wahrheiten: Sie werde die Mehrwertsteuer erhöhen, kündigte sie an. Der Wähler dankte es nicht. Vier Jahre später steckt die Wirtschaft in der schwersten Krise der Nachkriegszeit. Diesmal kündigt Merkel Steuersenkungen an. Das ruft nicht nur politischen Widerspruch hervor, sondern auch Verfassungsrechtler auf den Plan. Sie melden Zweifel an, ob Steuersenkungen in Zeiten gigantischer Rekordschulden mit dem Grundgesetz vereinbar wären.
Die gerade erst beschlossene Schuldenbremse würde Steuergeschenke auf Pump nicht zulassen, darüber herrscht Einigkeit. Doch sie gilt erst ab 2016. Die übernächste Bundesregierung darf nur noch Kredite von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) aufnehmen, rund neun Milliarden Euro. Der Bund wird die eigene Regel nach Kräften brechen, so lange es geht. Im Haushaltsentwurf bis 2013 sind 310 Milliarden Neuschulden vorgesehen.
Die Schuldenbremse würde in dieser Situation nicht nur Entlastungen verbieten, sondern die Regierung zu Steuererhöhungen zwingen. Doch auch nach heutigem Recht hätten es die Unionspläne in Karlsruhe schwer. Laut Grundgesetz darf der Staat nicht mehr Schulden machen als er für Investitionen ausgibt. Es sei denn, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist gestört. Das ist derzeit der Fall, nur deshalb sind die Rekordschulden zulässig. Ein gleichzeitiger Verzicht auf Steuereinnahmen würde das Finanzloch ohne Not vergrößern. „Kreditfinanzierte Steuersenkungen wären ohne Zweifel grundgesetzwidrig”, legt sich Verfassungsrechtler Joachim Wieland im „Spiegel” fest.
Entlastungen "völlig ausgeschlossen"
Der Finanzwissenschaftler Reinhold Schnabel von der Uni Duisburg-Essen hält ebenfalls Entlastungen für „völlig ausgeschlossen”. Das meint er jedoch ökonomisch, juristisch spricht er von einem Grenzfall: „Die Regierung könnte in Karlsruhe darlegen, dass Steuersenkungen zur Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sinnvoll wären.” Die Begründung könnte in etwa so lauten: Wir verschieben Steuererhöhungen in bessere Zeiten, um die Krise schneller zu überwinden.
Schließlich müssten Steuersenkungen auch in Brüssel auf Widerstand stoßen. Deutschland wird in den kommenden Jahren die EU-Defizitgrenze von drei Prozent verletzen. Brüssel duldet das aufgrund der Krise, fordert aber einen Sparplan. Dazu passen Steuersenkungen eher nicht.
Kürzungen nur begrenzt möglich
Es sei denn, die Regierung kürzt drastisch. Doch auch das kann sie nur begrenzt. Ein Großteil der Sozialausgaben ist ebenfalls verfassungsrechtlich geschützt – durch das Existenzminimum. An ihm orientiert sich die Grundsicherung für Arbeitslose, Kinder und Rentner. Andere Ausgaben steigen in der Wirtschaftskrise von ganz alleine: Das Arbeitslosengeld II etwa oder die Zinsen auf die so beispiellos wachsenden Altschulden.
Zwar lässt die Union offen, wann in den nächsten vier Jahren sie die Steuern senken will. Doch die geplante Entlastung um 15 Milliarden (die FDP verspricht 35 Milliarden) wäre selbst zum Ende der Regierungszeit eine Riesen-Hypothek für die nachfolgende Regierung. Noch 2013, wenn die Krise hoffentlich längst vorbei ist, rechnet der Bund mit Neuschulden von 46 Milliarden Euro. Dann bleiben noch zwei Jahre, um die selbst auferlegte Grenze von neun Milliarden einzuhalten. Wer auch immer dann regiert, braucht mehr Einnahmen, nicht weniger.