Essen. Haben wir mehr Geld im Portemonnaie, wenn die Steuern sinken? Nicht unbedingt, findet Professor Gerhard Bosch in diesem Gastbeitrag. Er lehrt als Wirtschaftssoziologe an der Uni Duisburg-Essen und leitet dort das Institut Arbeit und Qualifikation.

Professor Gerhard Bosch
Professor Gerhard Bosch © WAZ

Der Anteil der Abgaben für Sozialversicherungen und Steuern am Bruttosozialprodukt liegt in Deutschland bei rund 36 Prozent. Damit liegen wir unter dem Durchschnitt der EU. Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit Spitzenwerten in der Lebensqualität haben Abgabenquoten von etwa 50 Prozent.

Die neue Bundesregierung will nun die Abgabenquote senken. Den Bürgern wird mehr Netto vom Brutto versprochen. Natürlich wäre es schön, mehr Geld in der Tasche zu haben. Bekanntlich ist aber nichts im Leben umsonst.

Auf der Suche nach versteckten Kosten hilft da die Frage weiter: „Was ist eigentlich mit Netto gemeint?” Denn wenn sich die direkten Abgaben um 100 Euro verringern, dafür aber im Gegenzug 100 Euro zusätzlich für Rezeptgebühren, Studiengebühren oder eine erhöhte Mehrwertsteuer aufgebracht werden müssen, bleibt die Kaufkraft des verfügbaren Einkommens gleich.

Mehr Eigenvorsorge

Der Staat nimmt aber nicht nur Geld von uns. Den Abgaben stehen auch erhebliche Gegenwerte für den Bürger gegenüber. Die öffentliche Infrastruktur und das Bildungswesen werden aus Steuern finanziert. Mit Sozialbeiträgen erwirbt man Anrechte auf Rente, Krankenbehandlung oder Arbeitslosengeld. Wenn die Abgaben gesenkt werden, kommt es zwangsläufig zu Kürzungen dieser Gegenleistungen. Es bleibt dann jedem einzelnen überlassen, für die zusätzlichen Ausgaben zu sparen oder sich – etwa fürs Alter – privat zu versichern.

Wenn man diese zusätzliche Eigenvorsorge berücksichtigt, bleibt vom Netto wieder nicht mehr übrig. In den USA liegt die Abgabenquote zwar rund acht Prozent niedriger als bei uns. Für die Amerikaner ist dies trotzdem ziemlich teuer. Sie zahlen horrende Beiträge für private Versicherungen. Vor allem die Ärmeren können sich eine Krankenversicherung nicht leisten.

Das Versprechen vom höheren Nettogehalt könnte allerdings erfüllt werden, wenn die Eigenvorsorge effizienter als die staatliche ist. Davon ist nicht auszugehen. Die gesetzliche Rentenversicherung hat einen Verwaltungsanteil von weniger als einem Prozent der Beiträge. Bei privaten Versicherungen müssen Werbung, Vertreter und Gewinne mitfinanziert werden, die unter Umständen über 20 Prozent der Beiträge auffressen. In diesem Fall bleibt langfristig vom Netto sogar weniger übrig als zuvor.

"Nur Reiche können sich armen Staat leisten"

Noch ungünstiger sieht die Bilanz aus, wenn umverteilt wird. Durch Steuersenkungen werden vor allem die oberen Einkommen entlastet. Ausgabenkürzungen im Sozial- und Bildungsbereich treffen aber vor allem die mittleren und unteren Einkommen. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten, bemerkte hierzu der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith.

Man kann ökonomische Gesetze also nicht überlisten. Mehr Netto vom Brutto ist ein leeres Versprechen und voller versteckter oder in die Zukunft verlagerter Kosten vor allem für die unteren und mittleren Einkommen. Wer über diese Kosten nicht genau Buch führt, glaubt vielleicht mehr netto zu haben. Dabei ist es nur eine Netto-Illusion. Mit Illusionen kann man aber trefflich Politik machen.