London. So nervenaufreibend kann die Europawahl sein: Die Fingernägel abgekaut und zusätzliche Tränensäcke unter den altbekannten, in dieser angeschlagenen Fassung harrte Premier Gordon Brown der Ergebnisse. Im sonst EU-müden Königreich gilt die Wahl als Katalysator der innenpolitischen Krise.
Dass ausgerechnet Straßburg, stets mit gepflegt englischer Gleichgültigkeit oder Abneigung betrachtet, über das Schicksal von Westminster entscheiden könnte, gehört zur Ironie dieser Tage. Doch die für Labour prognostizierten, dramatischen Stimmverluste bei der EU-Wahl könnten zu einer zweiten Welle von Putschversuchen gegen Brown führen.
Der Regierungschef klammerte sich gestern an die Trümmer seine politischen Karriere, nachdem Labour ein Drittel der Mandate bei den englischen Kommunalwahlen, die parallel zum EU-Urnengang bereits am Donnerstag stattgefunden hatten, abgeben musste. Davon waren erstmals auch ehemalige Arbeiter-Hochburgen in Nordengland betroffen. Die rechtskonservative British National Party (BNP) kam in einigen Gegenden sogar auf 12 Prozent.
Auch bei der EU-Wahl könnte die BNP sich ihren ersten Sitz erkämpfen. „Wir rechnen mit einem seismischen Durchbruch", sagte Sprecher Simon Darby. Für Labour dürften die Ergebnisse ebenfalls ein politisches Erdbeben bedeuten. Am frühen Abend wurde damit gerechnet, dass die Regierungspartei hinter die Konservativen, Liberalen und die europafeindliche UKIP-Partei auf den vierten Platz fallen könnte.
Finstere Erwartungen
In Erwartung der verheerenden EU-Ergebnisse hatte Premier Gordon Brown bereits am Freitag sein Kabinett umgebaut. Der Versuch, Führungsstärke auf dem schlingernden Labour-Kahn zu zeigen, ging allerdings nicht auf. Noch während Brown seine neue Ministerriege vorstellte, meuterte die Europa-Verantwortliche Caroline Flint. Mit ihrem Rücktritt und vernichtender Kritik schwächte sie Brown weiter. „Ich bin als Feigenblatt dieser Regierung benutzt worden, die sich mit Frauen schmückt, sie aber in Wahrheit nichts entscheiden lässt”, sagte sie.
Die Umgestaltung seiner Regierung kann den Groll jener, die zurückgetreten sind, gefeuert oder übergangen worden sind, kaum maskieren. Zudem haben Browns parteiinterne Gegner bereits angekündigt, mit den massiven Labour-Stimmverlusten das Momentum ihrer Rebellion vorwärts zu treiben. Montagabend trifft die Parlamentsfraktion zusammen, um über einen Ersatzkandidaten für Brown und mögliche Neuwahlen zu diskutieren.
Bitterböse Email
Kurz vor diesem für Brown brenzligen Treffen sind weitere Emails aufgetaucht, die seinen Charakter diskreditieren. Lord Peter Mandelson, Vertrauter von Browns Erzrivalen Tony Blair, hatte einem Blogger geschrieben, der Premier sei „unbeholfen – körperlich, aber auch emotional”. Die Email aus dem Jahr 2008 wurde pikanterweise öffentlich, nachdem Brown ihn vergangene Woche als seinen Stellvertreter eingesetzt hatte.
Browns unzugängliche und wenig telegene Erscheinung steht immer wieder in der Kritik; der 58-Jährige gilt im Gegensatz zu Vorgänger Blair als cholerisch, unentschlossen und stur. Labours geringe Sympathiewerte werden auch seinem mangelnden Charisma angelastet – in Umfragen schneidet er regelmäßig als unbeliebtester Premier der Geschichte ab. Der jüngste Spesenskandal britischer Abgeordneter, die sich auf Kosten der Steuerzahler Luxuskäufe gegönnt haben, hat den extremen Randparteien zudem weiter Auftrieb gegeben.