Die Wirtschaftskrise hat dafür gesorgt, dass die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen gesunken ist. Das lässt sich am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ablesen. Kritiker monieren, der Blick aufs BIP sei zu verengt
Krise mit Folgen: Die Wirtschaft hat Kraft verloren. Das zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das als Maß aller Wirtschaftsleistung gilt. Aber: Muss die Wirtschaft immer zulegen?
„Wachstum ist als Mittel für andere Ziele nötig, aber nicht als Ziel an sich”, sagt Norbert Räth. Er berechnet beim Statistischen Bundesamt das BIP. Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung stimmt zu: „Wirtschaftswachstum bedeutet, dass der zu verteilende Kuchen immer größer wird”, sagt der Volkswirt. „Damit lassen sich gesellschaftliche Probleme einfacher lösen, zum Beispiel Armut bekämpfen und Innovationen fördern.”
Ein menschliches Grundbedürfnis, warum die Wirtschaft wachsen muss, sieht Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI): Die meisten wollen ihre Lage verbessern. „Bleibt die Zahl der Menschen konstant und wächst die Wirtschaft nicht, kann jeder seine persönliche Lebenssituation nur auf Kosten anderer verbessern.” Fazit: „Eine Wirtschaft muss wachsen, wenn Bürger ihren Lebensstandard steigern wollen und dies nicht zu Lasten anderer gehen soll.” Zudem stellten Bürger Ansprüche, zum Beispiel bei der Altersversorgung. „Dafür braucht der Staat höhere Einnahmen. Das geht über höhere Steuern – oder eben über Wachstum.”
Wachstum nützt auch dem Arbeitsmarkt. Infolge technischer Neuerungen stellen weniger Menschen mehr Autos oder Maschinen her. Horn kennt die Faustregel. „Das BIP muss um 1,5 bis zwei Prozent wachsen, damit die bestehenden Jobs erhalten bleiben”, sagt er. „Wächst das BIP um ein Prozent, gehen 0,5 Prozent der Jobs verloren. Denn die Produktivität verbessert sich: die gleiche Arbeit kann mit weniger Menschen erledigt werden.” Erst wenn die Wirtschaft um zwei bis drei Prozent wachse, entstünden Jobs.
In der aktuellen weltweiten Krise sind die Folgen des Abschwungs für den deutschen Arbeitsmarkt dank Kurzarbeit begrenzt. Noch, denn 4,7 Millionen Menschen dürften bis Ende 2010 ohne Arbeit sein, schätzt Horn. „Verglichen mit dem noch guten 2008 bedeutet das, dass uns die Krise etwa 1,7 Millionen Jobs gekostet hat.” Um das wettzumachen, müsste die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen steigen. „Im Grunde müsste die Wirtschaft nächstes Jahr um sechs Prozent wachsen, um Wachstums- und Job-Verluste 2009 sofort auszugleichen”, sagt Horn. „Wächst die Wirtschaft jährlich um zwei bis drei Prozent, würde es drei bis vier Jahre dauern, um verschwundene Stellen auszugleichen.”
Die Zahl der Erwerbstätigen sinkt indes um 150 000 je Jahr, sagt Eugen Spitznagel vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Die Bevölkerung altert und schrumpft, das kann Zuwanderung nur teilweise ausgleichen.” Muss die Wirtschaft trotzdem wachsen, wo es doch weniger Arbeitskräfte gibt? Ja, sagt Spitznagel, denn unser Sozialsystem braucht Geld – für Renten, oder Krankenversicherung.
Einige Experten geißeln den Drang nach BIP-Wachstum. Karlheinz Ruckriegel, Professor für Betriebswirtschaft an der Nürnberger Georg-Simon-Ohm-Hochschule, guckt auch aufs Glück: „Seit 1952 hat sich das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland vervierzehnfacht.” Doch die Bürger seien nicht entsprechend glücklicher. Seien Grundbedürfnisse wie Essen und Wohnen befriedigt, trage Wirtschaftswachstum nicht mehr zum Glück des Einzelnen bei. Um die wirkliche Lage der Menschen zu messen, müsse das BIP ergänzt werden: um Einkommensverteilung, Hausarbeit, Ehrenämter oder Umweltbelastungen.
„Falsches Wachstum”
Ein weiterer Kritiker ist Uwe Möller, einst Generalsekretär des Club of Rome. Das Expertengremium setzt sich für eine lebenswerte nachhaltige Zukunft ein; 1972 sorgte der Bericht „Grenzen des Wachstums” für Schlagzeilen. Die Wirtschaft dürfe nicht mehr so wie bisher wachsen, sagt Möller. „Wir betreiben mit unserem Konsum Raubbau an der Natur, wir tun so als stünden uns 1,3 Planeten zur Verfügung.” Unser Wachstum basiere auf „Autos, Textilien, Wegwerfprodukten oder Barbiepuppen”. „Wir bräuchten aber Investitionen in andere Mobilitätssysteme, in bessere Medizin, Gesundheitssysteme sowie Pflegesysteme für Ältere oder in erneuerbare Energien”, sagt Möller. „Die Arbeit wird jedenfalls nicht knapp.”