Ein Essener erzählt, was die Abhängigkeit aus ihm machte – und wie er mit 56 Jahren den Absprung schaffte

Sie haben es alle gewusst. Seine Frau natürlich, die Tochter, die Kollegen, die Nachbarn, jeder konnte es sehen und redete auch darüber, nur Heinz*: Heinz wusste nichts. Das ist das Schlimmste für ihn, dass er nichts erkannt hat – seine Krankheit, den Kummer seiner Frau, vor allem: sich selbst nicht mehr. „So ist das in der akuten Saufphase”, sagt Heinz heute: „Ich war ein ganz anderer Mann.”

1,3 Millionen Abhängige in Deutschland

Laut Bundesgesundheitsministerium konsumieren 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol „in gesundheitlich riskanter Form”, 1,3 Millionen gelten als abhängig. Nur etwa zehn Prozent unterziehen sich einer Therapie, oft erst nach Jahren der Abhängigkeit. Im internationalen Vergleich steht Deutschland, wo Alkohol gesellschaftlich akzeptiert ist, beim Konsum unter den ersten zehn. Dabei gibt es Hilfen: 8000 Selbsthilfegruppen und über 1000 Suchtberatungsstellen kümmern sich um Betroffene und ihre Angehörigen.

Allein beim „Kreuzbund” in Essen tauschen sich 600 Teilnehmer in 30 Gruppen aus, darunter in einem eigenen Gesprächskreis „55plus”.

online: www.kreuzbund.de

Wann alles angefangen hat, wie lange es ging, das weiß man auch nicht, sagt Heinz, „bestimmt 25 Jahre”, fast die Hälfte seines Lebens. Ein Bier auf den Durst und noch eins zwischendurch, „das machen andere auch”, so muss es begonnen haben, „ganz normal”. Aber normal war bald nichts mehr im Leben von Heinz. Zehn, zwölf Flaschen trank er am Tag, dazu noch Wein, „wenn ich keinen Alkohol in der Nähe hatte, dachte ich, ich fall um”. Fahrig wurde er dann und zittrig, „raffiniert, ich dachte wirklich, das sei Medizin”. Heinz richtete sein Leben aus an Büdchen, Supermärkten und Küchenvorräten und „wusste wirklich nicht, dass ich das brauche”.

Streitsüchtig ist er darüber geworden, ein unangenehmer Typ, und trotzdem gab es Leute, die sich trauten zu fragen: „Trinkst du nicht ein bisschen viel?” Aber Alkoholiker, sagt Heinz, „trinken nie zu viel”. Alkoholiker, das waren für ihn „bärtige Halbbesoffene”, aber er doch nicht! „Was willst du von mir”, herrschte er seine Frau an, wenn sie wagte zu sagen: Du bist krank. „Ich mach doch alles!” Er ging sogar arbeiten, meistens jedenfalls, und wenn nicht, ließ er die Gattin anrufen: „Mein Mann fühlt sich nicht wohl.” Feige, sagt er, feige seien Leute wie er auch noch.

Nur zu sich selbst hat er zuweilen gesagt: Vielleicht ist es etwas viel, aber er hatte ja keine Beschwerden. Solange er „genug Stoff hatte, um zu funktionieren”. Alkoholismus, sagt Heinz, ist eine Krankheit, die sich selbst verleugnet und alles andere auch, und so hat er die Augen davor verschlossen, dass sie auch eine Familienkrankheit ist: Die Anderen litten mit. Die ganze Welt war schuld, nur er nicht, so hat er sich selbst betrogen: „Lügen gehört zum Krankheitsbild wie Schnupfen zur Grippe.”

Und selbst wenn er gewusst hätte, worüber zu reden war: Was hätte er sagen sollen? „Die Krankheit hat nicht gerade den besten Ruf”, sagt Heinz. „Selbst schuld”, fänden viele Menschen, der Trinker an sich sei eben willensschwach. „Schlechter Mensch, schlechter Charakter”, Heinz weiß, was die Leute reden – was würden die komisch gucken, wenn er im Wartezimmer darüber spräche wie andere über ihre Herzkrankheit!

Nur kam der Tag, „da begann mein Glück”, sagt Heinz heute, da sein Körper das Versteckspiel nicht mehr mitmachen wollte, Heinz war 56: „Irgendeiner wehrt sich in dem Alter, der Chef, der Partner oder der eigene Körper.” Ein Infekt sorgte dafür, dass er nichts bei sich behielt, auch das Bier nicht, er reagierte mit Krämpfen, „wie epileptische Anfälle”. Entzug! Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen, er weigerte sich: „Ich wusste, nach vier Bier würde es mir besser gehen” – am Ende nahmen sie ihn einfach mit.

Zehn Tage Entgiftung und viele eindringliche Sätze seines Arztes, der an den Großvater appellierte: „Das hat wehgetan.” Aber geholfen. Heinz ging zum Kreuzbund, wo andere saßen, die dasselbe erfahren hatten, die wussten: „Diese Krankheit ist menschenunwürdig.” Er musste lernen, ohne Alkohol zu leben, musste lernen einzusehen: „Ich bin krank.” Und dass es keine Pillen gibt dagegen, nur Willen.

Unheilbare Krankheit

„Wachsamkeit ist unsere Medizin”, das Nein-Sagen, das Erkennen von Schnaps im Kuchen und Wein in Soßen. „Alkoholismus ist unheilbar”, ein Tropfen reicht, dass er wiederkommt. Man kann das allerdings, wie Heinz, auch positiv sehen: „Eine wunderbare Krankheit, man kann sie selbst zum Stillstand bringen.”

Er hat seinen Humor wieder, er ist wieder der gute alte Heinz. Neun Jahre sind vergangen, Heinz ist jetzt 65 und hadert nicht. Nur manchmal ist er traurig: wenn er zurückdenkt, wie „erbärmlich” die Zeit war mit dem Alkohol, wie weh er anderen getan hat und was er verpasste: „Ich war dabei, aber ich habe nichts wirklich erlebt.” Was ihn dann tröstet, ist die Erinnerung an einen Satz seiner Tochter, nach dem Entzug: „Jetzt habe ich meinen Papi wieder.”

* Name geändert