München. Was denkt jemand, der eine Waffe samt Schalldämpfer und Munition besorgt und weitergibt? “Keine Ahnung“ und “ich weiß es nicht“ antwortet Carsten S. im NSU-Prozess vor dem Langericht München immer wieder. Der längst aus der Neonazi-Szene ausgestiegene 33-Jährige soll die Mordwaffe besorgt haben.

Der 6. Prozesstag ist fast vorbei, als plötzlich Bewegung in die Hauptangeklagte kommt. Mehr als fünf Stunden hat Beate Zschäpe damit verbracht, ihrem Mitangeklagten Carsten S. zuzuhören, der stockend sein Geständnis vom Tag zuvor fortsetzt.

Mal hält sie die Augen geschlossen, mal rollt sie sie oder starrt an die Decke. Ihre Finger trommeln ab und an auf den Tisch der Anklagebank. Doch plötzlich, es geht um ein Treffen in den 1990er Jahren, an dem sie eine anwaltliche Vollmacht unterzeichnet haben soll, dreht sich Zschäpe um zu Carsten S., der keinen Meter hinter ihr sitzt.

Sie sieht ihn an. Er schweigt. Sie sieht ihn länger an. Er schweigt. Dann verdreht Zschäpe die Augen. Als sie sich wieder nach vorn dreht, lässt sie ihren Blick über die Zuschauertribüne schweifen, undurchdringlich. Doch die Hauptangeklagte steht auch an diesem Mittwoch nicht im Zentrum. Der Tag gehört Carsten S., 33 Jahre alt, angeklagt wegen Beihilfe zum neunfachen Mord. Er setzt seine Aussage fort, die am Abend zuvor unterbrochen worden war.

Treffen mit Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe

Zuerst trägt er noch einige Details zu der Übergabe der Ceska-Pistole nach, mit der mutmaßlich neun Einwanderer durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) getötet wurden. Er habe ja, sagt er, zu diesem Zweck im Frühjahr 2000 Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Chemnitz getroffen. Vor der Übergabe habe er mit den beiden in einem Café oder Restaurant zusammengesessen, auch Beate Zschäpe habe kurz vorbei geschaut.

Bei dieser Gelegenheit, sagt er nun, habe er „einen Brief mitgenommen“ und später, in Jena-Winzerla, in einen Briefkasten gesteckt. Somit wurde S., zumindest dieses eine Mal, auch zum Kontaktmann zwischen dem Trio und deren Familien. Denn: „Ich gehe davon aus, dass ich den Brief bei der Familie Mundlos eingeworfen habe“, sagt er. Auch sei er einmal in Jena-Nord zusammen mit dem fünf Jahre älteren Ralf Wohlleben in der Rewe-Kaufhalle bei der Mutter von Mundlos gewesen. „Sie hat da an der Kasse gesessen und gefragt, ob alles in Ordnung ist, und wir haben ja gesagt.“

Wohlleben ist damals dabei, in der NPD-Hierarchie aufzusteigen. Er ist Chef des Jenaer Kreisverbandes, S. sein Stellvertreter. Auch für den Älteren, so stellt es der Angeklagte dar, dient er als Mittelsmann zu den drei Flüchtigen. Der andere, sagt S., habe ihn zusammen mit dem Neonazi André K. gebeten, die Telefonate mit Böhnhardt und Mundlos zu übernehmen, weil sie selbst überwacht würden.

Neonazi-Gegner geprügelt und getreten

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl versucht wieder und wieder, mehr Details zu Wohlleben und dessen Kontakte zum NSU zu erfahren. Doch S. wiederholt im Grunde nur, was er tags zuvor erzählt hatte: Wohlleben habe den Kauf der Waffe organisatorisch begleitet, alles andere könne er nur mutmaßen.

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Von Martin Debes und Lavinia Meier-Ewert

In jener Zeit, in den späten 1990er Jahren, war S. fest in der Neonazi-Szene verankert. Zum Alltag gehörten auch „Aktionen“, wie S. formuliert. So kippte man Dönerbuden um oder beschädigte sie. Einmal, wahrscheinlich 1998, sei ein „Kumpel“ gekommen, und habe erzählt, dass er bei der Endhaltestelle als Nazi beschimpft worden sind. „Da sind wir dann alle hin, zu einer Holzhütte oder so, und haben auf einen oder zwei eingeschlagen. Ich habe auch einmal zugetreten, oder zweimal, ich weiß es nicht mehr“.

An dieser Stelle fragt Richter Götzl nach: Habe man die beiden Opfer verletzt? „Ich gehe davon aus, dass sie verletzt waren. Wir sind danach weggegangen“, antwortet S. Götzl gibt sich damit nicht zufrieden und fragt noch einmal nach. Der Angeklagte schweigt mindestens eine halbe Minute. Dann erst sagt er: „Ich meine, es stand in der Zeitung, dass die schwer verletzt waren.“

Carsten S. erscheint geständig, erzählt aber nur langsam

So ähnlich geht es den gesamten Vormittag. Carsten S. erscheint zwar geständig. Aber er erzählt nur langsam, stockend, wirkt zuweilen begriffsstutzig. Exemplarisch ist ein Dialog, der sich über einer Viertelstunde hinzieht und der, sehr stark gerafft, so abläuft:

Carsten S.: „Wir haben in Winzerla eine Döner-Bude umgeworfen, so eine mobile, mit zwei Rädern. Das war nachts, wir waren sechs bis acht Personen.“

Richter Götzl: „Warum haben Sie das getan?"

Carsten S.: „Ich gehe davon aus, dass es ein gewisses Feindbild war, diese Dönerbude. Es war nicht geplant, es war spontan.“

Richter Götzl: „Aber warum?"

Carsten S.: „Es war ne lustige Aktion, da haben wir uns einen Spaß gemacht, da haben wir denen eins ausgewischt.“

Richter Götzl (jetzt schon hörbar genervt): „Da weichen Sie mir jetzt etwas aus, Herr S."

Carsten S.: Ich denke das war eine Mischung aus Nervenkitzel, Action, und auch jemanden etwas auszuwischen, ja. Es war auch ein gewisses Feindbild"

Richter Götzl: „Von welchem Feindbild sprechen Sie denn?"

Carsten S. (besonders lange Pause) „Also so erklär ich mir das.“

Richter Götzl: „Wen meinen Sie denn mit Feind?"

Cartsten S.: (noch längere Pause) „Es fußt natürlich schon auf dem Gedankengut der rechten Szene, das sich gegen Migranten richtet. Darauf fußte das Feindbild.“

Der Angeklagte schweigt, schaut, schweigt

Am Nachmittag wird es nicht besser. Carsten S. schweigt, schaut, schweigt. Zwischendurch sagt er Sätze wie „Ich weiß nicht“, „Mir fällt nichts ein“, „Ich gehe davon aus . . .“ An vieles will sich S. nun nicht mehr so genau erinnern wie in den Vernehmungen. Wer das Schloss des Motorrads geknackt hat zum Beispiel, das er für die Drei besorgen sollte, Ralf Wohlleben oder er. Ob es sich bei den Ausweispapieren, die er beim Einbruch in Beate Zschäpes Wohnung hat mitgehen lassen, um die Ausweise aller drei gehandelt hat oder ob es nur die von Beate Zschäpe gewesen sind. Und woran er sich schon gar nicht erinnert: was er sich damals gedacht habe, als er den Auftrag erhalten habe, eine Waffe zu besorgen. Und was es mit dem Schalldämpfer auf sich hat.

Richter Götzl probiert alle die ihm zur Verfügung stehenden Fragetechniken, von behutsam väterlich, schmollend, entnervt und schließlich schärfer.

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Doch Carsten S. weicht aus. In Passivkonstruktionen und Erinnerungsfloskeln. Warum er sich keine Gedanken um den Auftrag mit der Waffe machte, warum keine um den Schalldämpfer, das kann er nicht erklären. Es geschieht faktisch nichts mehr, bis auf ebenjene Szene, die Beate Zschäpe liefert.

Dann ist auch dieser Prozesstag vorbei. Sein Mandant habe keine Kraft mehr, sagt ein Verteidiger von S.. Richter Götzl stimmt zu. Es haben wohl alle erst einmal genug: Draußen, hinter den fensterlosen, meterdicken Mauern des Gerichtssaals, scheint erstmals seit langem die Sonne.