Onagawa. Ein Jahr nach der riesigen Flutwelle im Nordosten Japans wird noch immer aufgeräumt. Der Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften könnte noch Jahrzehnte dauern. 20 Millionen Tonnen Schutt müssen weggeräumt werden. Viele Überlebende haben ihre Heimat verloren – und nun auch die Hoffnung.

Eine Wand ist grün, die Fenster sehen irgendwie verdreht aus. Die Außentreppen für Notfälle führen im Zickzack nach rechts anstatt nach oben. Erst nach längerem Hinsehen fällt auf, was mit dem klotzigen Gebäude nicht mehr stimmt: Es ist komplett auf die Seite gekippt.

Genauso erging es einer nahe gelegenen Polizeistation aus Stahlbeton, deren Pfeiler, die vorher im Boden steckten, nun seitlich abstehen. „Etwa 20 Gebäude aus Stahlbeton wurden entlang der Küste vom Tsunami umgerissen“, erzählt Kazuhiko Abe, Lehrer an einer Schule in der Kleinstadt Onagawa. „Manche sollen als Mahnmale erhalten bleiben.“

Nie wieder sollen die Menschen vergessen, mit welcher Urgewalt ihre Heimat am 11. März 2011 nach einem Seebeben vor der Küste einfach weggeschwemmt wurde. In der zu 80 Prozent zerstörten Stadt erreichten die Wellen Orte, die 40 Meter über dem Meeresspiegel liegen.

Ein Jahr danach schockiert die unglaubliche Leere in den mittlerweile weitgehend von Schutt und Häuserruinen befreiten Ebenen, wo sich vorher Fischerhäuschen dicht an dicht drängten.

Die Töchter überlebten

Lehrer Abe war damals in seiner Schule, die hoch genug auf einem Hügel über der Stadt steht, sodass niemand dort zu Schaden kam. Weil sämtliche Transport- und Kommunikationswege zusammengebrochen waren, konnte er seine Familie nicht erreichen. Erst zwei Wochen später schaffte er es zu seiner Frau und seinen beiden Töchtern in die Nachbarstadt Ishinomaki.

Die konnte nicht glauben, dass er noch am Leben war: „Meine Frau hat erst gedacht, die Nachbarinnen nehmen sie auf den Arm.“ Etwa zur gleichen Zeit erfuhr er über Bekannte, dass auch seine Eltern auf der Halbinsel Oshika in einem kleinen Dorf direkt am Meer den Tsunami überlebt hatten. Für die beiden 70-Jährigen war es bereits der zweite Schicksalsschlag durch einen Tsunami. Schon 1960 mussten sie erleben, wie ein vom Chile-Beben der Stärke 9,5 ausgelöster Tsunami Japans Ostküste anfiel. Rund 130 Menschen starben damals.

Trügerische Sicherheit

In der Stadt Minamisanriku in der gleichen Präfektur steht vor dem Stahlgerippe des Katastrophenzentrums ein verbogenes Schild, das die damalige Wellenhöhe anzeigte: 2,40 Meter. Ironischerweise könnte der Zweck dieser Anzeige, nämlich den Menschen die Gefahr bewusst zu machen, genau das Gegenteil bewirkt haben. „Viele, die den Chile-Tsunami erlebt hatten, dachten sich, das wird schon nicht schlimmer als damals werden“, erzählen Anwohner.

Anstatt auf Hügel über der Stadt zu fliehen, gingen sie ins oberste Stockwerk ihrer zwei- oder dreistöckigen Häuser. Wer Minamisanriku heute sieht, weiß sofort, dass niemand im Stadtzentrum eine Chance hatte. Der Ort gehört mit Onagawa und Rikuzentakata zu jenen, die fast vollständig ausgelöscht wurden. Hier wird noch immer nach Toten gesucht.

Suche nach Toten geht weiter

Deswegen ist derzeit das Gebiet um das Katastrophenschutzzentrum von Minamisanriku gesperrt. Polizisten stochern mit langen Stöcken in der Erde, drehen Steine um. „Wenn wir nur einer Familie sagen können, was mit ihren Angehörigen passiert ist, dann hat sich der Aufwand schon gelohnt“, sagt ein Polizist.

Die Ereignisse des 11. März 2011 haben Japan traumatisiert, vor allem die Menschen im Osten und Norden, die das Beben spürten. Für den Wiederaufbau hier haben die Behörden zehn Jahre angesetzt. Ob dies realistisch ist, hängt unter anderem davon ab, wie schnell die Unmengen an Schutt entsorgt werden können. Das japanische Umweltministerium schätzt, dass allein in den am schlimmsten getroffenen Präfekturen Miyagi und Iwate mehr als 20 Millionen Tonnen Abfall angefallen sind. Ende Februar waren erst 1,2 Millionen Tonnen geschafft.

„Das fühlt sich nicht wie mein Zuhause an“

Den 325 000 Menschen, die seit Herbst 2011 beengt in Übergangswohnungen oder containerartigen Reihenhäuschen leben, deren Außenwände im Sommer glühend heiß werden und im Winter eiskalt, bleibt nichts anderes übrig als zu warten und zu hoffen. „Ich habe keine Lust mehr, mir so wie früher Bücher und CDs zu kaufen“, erzählt Kano Tamura, die mit ihren Eltern und ihrer Großmutter eine Einheit auf einem Schulhof in Kesennuma bewohnt. „Das hier fühlt sich nicht wie mein Zuhause an.“

Gemeinnützige Organisationen gehen nun dazu über, statt materieller Hilfe „Herzenspflege“ anzubieten, wie Sayaka Matsumoto vom Roten Kreuz berichtet. Im Gemeindezentrum von Kesennuma kann man sogar Plüsch-Roboter ausleihen, die auf Streicheln reagieren und Menschen trösten. Die Hausfrau Tsuyako Kumagai erzählt, manche schätzten den kleinen „Paro“ als Ersatz für Haustiere, die der Tsunami fortgespült hat.

Verflogene Zuversicht

Lehrer Abe aus Onagawa tut was er kann, um seine Schüler aufzumuntern. Im Sommer durften einige von ihnen ihre Bilder auf die Raumstation ISS schicken. Doch er beobachtet ein Jahr nach dem Desaster: „Die Herzen der Kinder sind erschöpft.“ Und in denen der Erwachsenen werde es auch immer düsterer, erst recht zum Jahrestag der Katastrophe. „Anfangs hatten die Leute ganz viele Ideen und dachten, wenn sie sich nur genug anstrengen, kann alles bald wieder aufgebaut werden.“ Doch so langsam hole sie die Realität ein.