Witten. Es gibt den Koranleser und einen schreienden Mann neben dem Euroshop: Auf Wittens Bahnhofstraße tummeln sich kuriose Menschen. Darf das so sein?
Auffällige Typen findet man in jeder Innenstadt. Ältere Menschen werden sich vielleicht noch an den 2017 verstorbenen „Pepe“ erinnern. Der Mann mit Mütze, Stock und Trenchcoat kam vielen irgendwie komisch vor. Gefühlt tummeln sich inzwischen mehr ungewöhnliche Gestalten in Witten: etwa der bunt kostümierte Koranleser oder ein laut schimpfender Mann. Ein anderer bedroht ausländische Händler und zerstört ihr Ware. Wie kann man mit sozial auffälligen Personen umgehen? Und werden sie überhaupt betreut?
Seinen Stammplatz hat Sinan neben der Sitzbank in der Mitte der Bahnhofstraße, zwischen Euroshop und dem Reisebüro Wedhorn. Schon mittags stellt er dort seine Bierflasche ab und legt los. Er klagt lautstark die Polizei, den Bundesstaatsanwalt, Interpol, die Ärztegesellschaft an. Wegen sexueller Misshandlung, Experimente an seinem Körper, gar Samenraub. „Wer Geld hat, hat die Macht“, ruft er immer wieder. Und: „Ich will, dass die Menschen das hören!“
Schreiender Mann: „Ich bin eine menschliche Seele wie andere auch!“
Das tun sie, man kann gar nicht anders. Passanten gucken erschrocken, genervt, manche gar ängstlich. Doch wenn man den 56-Jährigen anspricht, reagiert er sehr nett. Liebevoll füttert er ausgerechnet die unerwünschten Stadttauben oder kümmert sich einfühlsam um eine junge Meise. Vier, fünf Jahre sei er „in eine Psychiatrie eingesperrt gewesen“, erzählt Sinan und fragt: „Warum? Ich bin eine menschliche Seele wie andere auch!“
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In den benachbarten Geschäften empört sich niemand über den schreienden Mann. „Wir haben uns daran gewöhnt und beachten ihn gar nicht“, heißt es im Euroshop. Manchmal, wenn sich Kunden beschweren, bitten die Mitarbeiter ihn, leiser zu sprechen. Das funktioniere, „wenn auch nur für einige Minuten“.
Sozialpsychiatrischer Dienst ist zuständig
Im Wittener Reisebüro Wedhorn hat man eine Regelung gefunden. „Wir gehen raus, legen den Zeigefinger auf den Mund und sagen „Psst“. Das klappt“, verrät eine Mitarbeiterin. Sie betont: Dieser Mann sei sehr freundlich, wünsche immer einen „Guten Tag“. „Wir sollten ihm eine Chance geben und nicht ausgrenzen“, sagt die Frau. Statt die Polizei anzurufen, würde die Betreuung durch einen Streetworker doch mehr Sinn machen.
Aber werden sozial auffällige Personen eigentlich betreut? Jein - ergibt unsere Anfrage bei der Stadt Witten und beim EN-Kreis. Dessen Sozialpsychiatrischer Dienst mit Sitz am Schwanenmarkt ist zuständig. Er soll Kontakt zu den Betroffenen aufbauen und Hilfsangebote unterbreiten. Die Mitarbeiterinnen können auch eine ärztliche Untersuchung oder die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung veranlassen.
Behörden schreiten nur im Akutfall ein
Unterm Strich lässt sich aber sagen: Einige „bunte Vögel“ muss eine Stadtgesellschaft wohl einfach aushalten. Nehmen wir als Beispiel den schreienden Mann oder den Koranleser - der ja nichts anderes tut, als auffällig gekleidet an öffentlichen Orten ein Buch zu lesen.
„Beide Personen rechtfertigen keine Freiheitsentziehung durch eine sofortige Unterbringung“, heißt es aus der städtischen Pressestelle. „Bisher sind nur Störungen durch die Person am Euroshop durch lautstarkes Schreien bekannt. Die Person mit dem Koran ist zwar auffällig, hat aber nach unserer Kenntnis bisher nie jemanden belästigt.“
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Nur in schwerwiegenden Fällen schreiten die Behörden - also Sozialpsychiatrischer Dienst, Sozialamt und Amtsgericht - tatsächlich ein. Zum Beispiel, wenn jemand im Wahn auf die Straße rennt oder Passanten mit Gegenständen bedroht, also sich oder andere gefährdet.
Rechtlich kann das Ordnungsamt eine Person sogar gegen ihren Willen und ohne vorherige Beteiligung eines Gerichts in eine Facheinrichtung bringen. Dies sei aber „eine harte Grundrechtseinschränkung“, erklärt Stadtsprecherin Lena Kücük. „Daher liegen die Hürden für eine sofortige Unterbringung sehr hoch. Auffälliges Benehmen oder störendes Verhalten reicht nicht aus.“
Probleme beginnen nach Klinikaufenthalt oft von vorn
Die Praxis zeige auch, so Kücük, dass die „sofortige Unterbringung“ in einer Psychiatrie keine wirkliche Lösung sei. „In der Regel befinden sich die Patienten meist nur wenige Tage in der Klinik. Leider beginnt die Problematik dann oft von vorne.“ Nur die Anzahl oder die Schwere der Straftaten könne zu einer dauerhaften Unterbringung führen. Die Streifengänge (oder Fahrten) von Polizei oder Kommunalem Ordnungsdienst können die auffälligen Zeitgenommen offenbar auch nicht bremsen.
Ein Beispiel für die Grenzen des Systems dürfte der arabisch aussehende Mann sein, der ausländische Geschäftsinhaber in der Bahnhofstraße regelrecht terrorisiert - weil sie angeblich ungläubig, also „harām“ seien. Seine Vergehen wie Sachbeschädigung oder Ladendiebstahl sind strafrechtlich allerdings zu gering, so dass auch die Polizei kaum eine Handhabe sieht. Auch das muss eine Stadtgesellschaft offenbar ertragen.
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