Witten. Einsatz unter Extrembedingungen: Eine Wittenerin erzählt, warum sie trotzdem schnell zurück in Zentralafrikas Krisenregionen will.

Terroristische Anschläge und bewaffnete Auseinandersetzungen: Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in die Zentralafrikanische Republik. Das seit Jahren von einem Bürgerkrieg gebeutelte Land ist eines der ärmsten der Welt. Hier gibt es so gut wie keine Infrastruktur, der Lebensstandard der Bevölkerung ist äußerst niedrig. Ein halbes Jahr lang hat die Wittenerin Judith Mletzko in diesem Land verbracht, aus dem selbst die eigene Bevölkerung in Scharen flieht. Die junge Ärztin wünscht sich mehr internationale Aufmerksamkeit für die andauernde humanitäre Notlage dort – und würde am liebsten sofort wieder zurück.

Die unübersichtliche Bedrohungslage in dem Land war für Judith Mletzko dabei kein Hindernis – im Gegenteil. Um solche Einsätze machen zu können, hat sie überhaupt Medizin studiert. „Das ist ja der Kern der humanitären Hilfe, dass man dorthin geht, wo man am dringendsten gebraucht wird,“ sagt die 35-Jährige, die bis zu ihrem Einsatz als Assistenzärztin im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke gearbeitet hat. „In der ganzen Zentralafrikanischen Republik gibt es nur 15 Frauenärzte oder -ärztinnen“, beschreibt Mletzko die schlechte medizinische Versorgungslage. Auf 10.000 Einwohner kämen nur 0,6 Mediziner.

Müttersterblichkeit ist in der Zentralafrikanischen Republik eine der höchsten weltweit

Die Gefahr für Mutter und Kind, hier während oder kurz nach der Geburt zu sterben, sei „verheerend“, so Mletzko. Doch auch schon während der Schwangerschaft werden Komplikationen meist nicht bemerkt, weil die Frauen selten oder gar nicht zur Vorsorge gehen. In ihrer Zeit in der von der Hilfsorganisation Cap Anamur geführten Klinik in Bossembélé habe sie sich deshalb genau angeschaut, woran Frauen und Kinder dort sterben. Um dann einfache Maßnahen zu entwickeln, wie geholfen werden kann.

Das war Judith Mletzkos täglicher Arbeitsweg - hinten links die Räume der Gynäkologie und Geburtshilfe der Klinik in Bossembélé, Zentralafrikanische Republik. Von ihrem Zimmer aus konnte sie die Schreie aus dem Kreißsaal hören.
Das war Judith Mletzkos täglicher Arbeitsweg - hinten links die Räume der Gynäkologie und Geburtshilfe der Klinik in Bossembélé, Zentralafrikanische Republik. Von ihrem Zimmer aus konnte sie die Schreie aus dem Kreißsaal hören. © Mletzko | Mletzko

Oft käme es etwa nach der Geburt zu Blutungen, im Zusammmenhang mit der Plazenta-Ablösung. Helfen könne da schon eine gezielte Bauchmassage, weiß die Ärztin. Und wenn ein Neugeborenes Probleme mit der Atmung hat, reichen manchmal auch schon ein paar Hübe mit dem Beatmungsbeutel. „Das habe ich zum Beispiel jede Woche mit den Mitarbeitenden geübt.“

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Klinikpersonal ohne medizinische Ausbildung

Die besondere Herausforderung: Der Großteil des Personals vor Ort hat keine medizinische Ausbildung. Dafür bei bis zu 50 Geburten im Monat aber viel Erfahrung. Die Weiterbildung der Ortskräfte war deshalb auch ein wichtiger Teil der Arbeit der deutschen Ärztin.

Judith Mletzko übt mit lokalen Schwestern die Beatmung eines Neugeborenen.
Judith Mletzko übt mit lokalen Schwestern die Beatmung eines Neugeborenen. © Mletzko | Mletzko

Aber auch, sich erstmal in der neuen Situation zurecht zu finden. Nur beschränkte Medikamente, keine Blutbank, kein Röntgen-Gerät, kein MRT oder CT, nur ein einfaches Ultraschall-Gerät. Dazu nur begrenzt Strom. Durch einen Generator. Und nur von 9 bis 12 und 18 bis 21 Uhr.

Unheimliche Dichte an Notfällen

Außer Mletzko arbeitete nur ein weiterer Arzt in der Klinik, dessen Leiter Tresor Gamache. Und das bei rund 60 Betten. „Es ist eine Ausnahmesituation, man kann nur an einigen Stellen Feuer löschen, eigentlich müsste man an sechs Orten gleichzeitig sein“, erzählt die Wittenerin. Und ständig Notfälle. Auch solche, auf die man in Deutschland nicht vorbereitet wird, etwa eine gerissene Gebärmutter.

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Die Klinik in Bossembélé ist das medizinische Zentrum der Region. Die Frauen in der Umgebung gebären meist zuhause und kommen bei Komplikationen erst sehr spät in die Klinik. „Manche kommen nach einem tagelangen Geburtsstillstand, haben traditionelle Medikamente genommen“, sagt Mletzko. Dadurch sei die Gebärmutter oft schon komplett aufgerissen. Einmal fand die 35-Jährige deshalb auch ein Baby unter der Leber der Mutter.

„Humanitäre Hilfe verlangt einem alles ab“

Eigentlich müsse man ständig unmögliche Entscheidungen treffen, sagt Mletzko. Wer braucht gerade am meisten Hilfe, wer kann warten? Auch ob man einen Kaiserschnitt durchführen soll oder nicht, ist in der Zentralafrikanischen Republik eine schwierigere Entscheidung als in Deutschland. Denn dieser ist mit deutlich mehr Risiken für die Mutter verbunden, etwa bei einer weiteren Schwangerschaft. Und die ist meist sehr wahrscheinlich.

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„Die humanitäre Hilfe verlangt einem alles ab,“ so Mletzko. Denn ständig ist man in Dauerbereitschaft. „In Deutschland kann ich nach dem Dienst an einen Kollegen übergeben, dort hatte ich immer Dienst.“ Gelebt hat die 35-Jährige auf dem Gelände der Klinik. Nach draußen ist sie nur selten gegangen und wenn, dann nur in Begleitung von Kollegen.

Schüsse im OP

Denn immer wieder kommt es in dem Land zu bewaffneten Konflikten und Überfällen. Aktuell haben um Bossembélé herum die Regierungstruppen die Oberhand – unterstützt durch Söldner der Wagner-Truppe. Die Schüsse der Übungen, die diese regelmäßig durchführten, hörte Mletzko in ihrem OP. Am Anfang hat sie das noch verunsichert. „Aber es ist erstaunlich, an was man sich alles gewöhnt.“ Auch hat sie mitgeholfen, zahlreiche Kugeln zu entfernen.

Judith Mletzko mit Patientinnen in der staatlichen Klinik von Bossembélé. Betrieben wird das Krankenhaus von der Hilfsorganisation Cap Anamur.
Judith Mletzko mit Patientinnen in der staatlichen Klinik von Bossembélé. Betrieben wird das Krankenhaus von der Hilfsorganisation Cap Anamur. © Mletzko | Mletzko

Trotz allem: „Es hat für mich keinen Sinn gemacht, abzufahren“, sagt Mletzko. So sehr sei man als Team zusammengewachsen, dass es sich fast ein wenig anfühle, als habe sie sie im Stich gelassen. „Die Kollegen vor Ort kämpfen jeden Tag an vorderster Front.“ Und seien für sie deshalb die wahren Helden. Etwa ihr Kollege Dr. Tresor Gamache. „Er könnte als Arzt das Land verlassen und irgendwo anders viel komfortabler leben. Aber er macht es nicht.“

>>> Cap Anamur/ Deutsche Not-Ärzte e. V. , wurde 1979 von Rupert Neudeck und seiner Frau Christel zur Rettung der vietnamesischen Flüchtlinge im Südchinesischen Meer, der sogenannten Boatpeople, gegründet. Mehr Informationen zur Hilfsorganisation und zu deren Projekten findet man auf cap-anamur.org

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