Witten. Die „Sons of Gastarbeita“ aus Witten wurden 1994 berühmt, mit deutschem Rap und kritischen Texten. Und was machen die Bandmitglieder heute?

„In der deutschen Geschichte kommen die Gastarbeiter gar nicht vor. Dabei waren am Wirtschaftswunder unheimlich viele Migranten beteiligt!“ Wohl niemand sonst hat sich so öffentlichwirksam mit der verdrängten Geschichte der Arbeitsmigranten auseinandergesetzt wie die Band „Sons of Gastarbeita“. Die Jungs aus Witten galten 1994 erst als Szenetipp, heute als Väter des deutschen Hiphop. Ihre Texte sind längst Schulbuch-Material. Und der Kopf der „Gastarbeita“, Gandhi Chahine, kämpft noch immer gegen Benachteiligung.

Ein Text aus Witten geht um die Welt. Die Verse zum Stück „Die Söhne der Gastarbeita“ werden heute von der Bundeszentrale für politische Bildung und über das Goethe-Institut verbreitet. „Wir durften ja mal als Kulturbotschafter durch Europa reisen“, erinnert sich Ghandi Chahine. Noch immer kann er in schnellem Sprechtempo herunterbeten: „Ich bin, was ich bin/ein sohn dieser region/unabhängig von tradition und religion/in diesem land gebildet, verkannt/gemieden, anerkannt/mit dem rücken zur wand für kreativen Widerstand.“

Ideenfindung im Keller eines griechischen Restaurants

Diese Zeilen entstanden im Keller eines griechischen Restaurants an der Ardeystraße. 1993 war dieser Proberaum Treffpunkt und „geschützter Raum“ für sechs junge Wittener. Später, als die Band schon eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, vermittelte der damalige Bürgermeister Klaus Lohmann ihnen einen Proberaum in der Buchholzer Grundschule. „Und den haben wir bis heute angemietet“, sagt Chahine schmunzelnd.

Gandhi Chahine heute: Unter anderem leitet der Texter und Regisseur das „Musicoffice Hagen“. Er wohnt noch immer in Witten.
Gandhi Chahine heute: Unter anderem leitet der Texter und Regisseur das „Musicoffice Hagen“. Er wohnt noch immer in Witten. © WP | Michael Kleinrensing

Zu den Gründungsmitgliedern gehören auch Germain Bleich, Mustafa Saraç und Bünyamin Aslan, der heute als Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Hannover lehrt. Noch immer halten die Musiker den Kontakt miteinander. Nächstes Jahr soll ein Album zum 30. Jubiläum erscheinen.

Familie floh aus dem Libanon

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Das „Gastarbeiter“-Thema war der Anfang ihres kreativen Schaffens. Chahine wurde 1969 im Libanon geboren, in der Millionenstadt Beirut. Die Familie floh 1977 vor dem Krieg und kam nach Vormholz. Sein Vater, ein Akademiker, arbeitete bei der Ruhrtaler Gesenkschmiede. Gandhi ging auf das Hardenstein Gymnasium. Er sei der erste Schüler mit Migrationshintergrund gewesen, der dort Abitur machte. Der Abschluss sei „ein harter Weg“ gewesen. „Meine Biografie wäre sicher anders verlaufen, wenn mein Potenzial erkannt worden wäre.“

Als erster Schüler mit Migrationshintergrund machte Ghandi Chahine an der Hardenstein-Gesamtschule (hinter der Traglufthalle links) in Witten Abitur.
Als erster Schüler mit Migrationshintergrund machte Ghandi Chahine an der Hardenstein-Gesamtschule (hinter der Traglufthalle links) in Witten Abitur. © www.blossey.eu | Hans Blossey

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Wut treibt die Söhne der Gastarbeiter an. Zunächst gab es die Anschläge auf Migranten 1992 in Mölln und 1993 in Solingen. In den Hausfluren der Chahines oder der Saraçs wurden von den Vermietern Feuerlöscher installiert. „Wir wussten, warum“, sagt Chahine. Den Frust lassen sie mit Musik raus.

Rap, der Rhythmus der Unterdrückten, das passte sowieso. „Außerdem wollten wir viel Text unterbringen – und meine gesanglichen Fähigkeiten waren begrenzt.“ Gandhi Chahine mag den „Reimflow“ der deutschen Sprache: „Wir haben uns unheimlich Mühe mit den Texten gegeben und zeitweise fünf- bis sechsmal die Woche geprobt.“

Thema taucht in Lehrwerken nicht auf

Der Wittener bekommt noch heute mit, dass die Generation der Eltern oder Großeltern nie groß erzählt hat, wie sie einst nach Deutschland kamen. Dabei, findet er, wäre das interessant gewesen: von rassistischen Anfeindungen oder der miesen Wohnsituation in feuchten Kellerräumen. Auch während seines Geschichts-Studiums an der Ruhr-Uni Bochum bemerkte er: In keinem Lehrbuch kam das Thema vor.

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„Es war revolutionär, dass wir Anfang der 90er Jahre gesagt haben: Wir sind ein Teil deutscher Geschichte. Unsere Eltern waren damit überhaupt nicht einverstanden.“ Die Jungs wollten auffallen, ihre Eltern gerade nicht. „Sie haben sich immer als Gäste gefühlt, gesagt, das ist nicht unser Land. Umgekehrt hat die Gesellschaft ja auch deutlich gemacht: Ihr gehört hier nicht hin.“

Heute arbeitet der 53-Jährige als Regisseur, Texter oder Drehbuchautor. Er findet: Die Chancengleichheit hat sich verbessert, aber es gibt noch viel zu tun. Noch immer heiße es, die „Gastarbeiter“ seien nach Deutschland gekommen – „dabei hat man sie hergeholt. Sie konnten sich ja noch nicht mal den Arbeitsort aussuchen“. Ghandi Chahine nennt das Beispiel der Biontech-Gründer Özlem Türeci und Uğur Şahin. „Uğur Şahin wird als Errungenschaft deutscher Migrationspolitik gefeiert. Dabei müsste man ihn dafür feiern, dass er es trotzdem geschafft hat.“

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