Witten. Das Jugendamt hat 2019 in Witten 74 Fälle von Kindeswohlgefährdung geprüft. Die Meldungen nehmen Jahr für Jahr zu. Woran das liegt.

Das Jugendamt Witten hat 2019 deutlich mehr Verfahren zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet als in den Jahren zuvor. Auch im EN-Kreis sind sie Zahlen in die Höhe geschossen. Die Bandbreite reicht dabei vom Kindesmissbrauch über Misshandlung hin zu grober Vernachlässigung.

74 Mal hat das Jugendamt Witten im vergangenen Jahr einschätzen müssen, ob ein Kind bei seinen Erziehungsberechtigten gut aufgehoben ist, oder ob seine körperliche, geistige oder seelische Entwicklung beeinträchtigt ist. Dabei stellten die Mitarbeiter in 14 Fällen eine akute Bedrohung des Kindes fest, in sieben Fällen eine latente Bedrohung. Bei 22 Familien war ein Hilfebedarf erkennbar, 29 Mal gab das Jugendamt Entwarnung.

Zahl der Verfahren zur Kindeswohlgefährdung ist in Witten seit 2017 um ein Viertel gestiegen

In Witten ist die Zahl der Verfahren zur Kindeswohlgefährdung seit 2017 um mehr als ein Viertel gestiegen. Im EN-Kreis verdoppelte sich diese Zahl von 304 auf 588 fast. In 38 Fällen wurde im Kreis 2017 eine akute Gefährdung eines Minderjährigen festgestellt, zwei Jahre später waren es 113 Fälle.


„Der Anstieg an Meldungen hängt mit einer größeren Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Skandale der letzten Jahre zusammen“, sagt Elke Börker vom Wittener Jugendamt. Auch Schulen und Kitas seien mehr sensibilisiert worden. Auch würden viele anonyme Anzeigen im Jugendamt eingehen, von Menschen aus dem Umfeld von betroffenen Kindern, die „ihr Unwohlsein kundtun“ wollten. „Früher gab es eher eine Kultur des Wegsehens“, sagt Börker, die seit fast 40 Jahren im Jugendamt arbeitet.

Zahlen werden weiter steigen

Im laufenden Jahr werden die Zahlen noch einmal steigen, ist sich die stellvertretende Amtsleiterin sicher. Denn bislang wurden dem Jugendamt in diesem Jahr bereits 46 Kindeswohlgefährdungen gemeldet. Elf Mal kamen die Sozialarbeiter zu dem Schluss, dass ein Kind in seiner Familie bedroht ist.

Die Zahl der Verfahren zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung werden weiter steigen, sagt Elke Börker, stellvertretende Leiterin des Jugendamtes der Stadt Witten.
Die Zahl der Verfahren zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung werden weiter steigen, sagt Elke Börker, stellvertretende Leiterin des Jugendamtes der Stadt Witten. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Die Corona-Krise hat dazu wohl ihren Teil beigetragen. Es sei aber schwer zu sagen, wie viele der neuen Fällen auf Corona zurückzuführen seien. „Meldungen auf Gefährdung eines Kindes wurden aber auch im scharfen Lockdown sofort in Angriff genommen“, betont die 61-Jährige. Generell handelt das Jugendamt bei einer möglichen Gefährdung schnell. Ein unangekündigter Hausbesuch erfolgt meist noch am Tag der Meldung.

Jugendamt kommt in verdreckte und verkotete Kinderzimmer

Dabei achten die Sozialarbeiter etwa auf den gesundheitlichen Zustand des Kindes, auf Körperhygiene und wie die Wohnung aussieht. Immer wieder komme es vor, dass es im Haus kein Essen für den Nachwuchs gebe, dass Kinder verdreckt oder unzureichend angezogen seien, erzählt Börker. Oder das Kinderzimmer sei verdreckt und verkotet, die Kinder großteils sich selbst überlassen. Denn Kindeswohlgefährdung sei eben nicht nur direkte körperliche Gewalt, so die 61-Jährige.

24 Fälle von Kinderpornografie aufgedeckt

16 Kinder und 13 Jugendliche sind in Witten laut aktueller Kriminalitätsstatistik der Polizei 2019 Opfer von Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung geworden. Zehn Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern deckten die Ermittler auf, 24 Fälle von Kinderpornografie wurden ermittelt. Wie oft Kinder Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind, lässt sich aus der Statistik nicht ablesen.

93 Mal sind Minderjährige im letzten Jahr von der Stadt in Obhut genommen worden. Einige Kinder kamen dabei mehrfach in ein Heim. Wer einen Fall von Kindeswohlgefährdung melden möchte, macht dies derzeit am besten per Mail an jugendhilfe-und-schule@stadt-witten.de.

Der zu Beginn der Kontaktbeschränkungen befürchtete deutliche Anstieg an Gewalt gegen Kindern ist bislang ausgeblieben – oder vielmehr weitestgehend unentdeckt geblieben. So verzeichnet etwa die gemeinnützige GmbH „Flow“ bislang keine erhöhte Nachfrage nach Plätzen in ihrem Kinderschutzhaus in der Ruhrstadt. „Was wir sehen, ist aber nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Geschäftsführer Hermann Muß.

Denn Schulen und Kitas, die sonst häufig den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung beim Jugendamt anzeigen, waren während des Lockdowns geschlossen. Knapp jede dritte Meldung in Witten stammte 2019 von Lehrern oder Erziehern. „Ich glaube, nach den Sommerferien wird noch eine Welle kommen“, sagt deshalb auch „Flow“-Chef Muß.

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