Witten. Es ist wie an einem Sonntag und trotzdem alles anders. Die Post ist auf, Frisöre, Optiker, Biomarkt. Witten an Tag eins des Ausnahmezustandes.
Warum erinnert mich dieser Donnerstag irgendwie an frühere Rosenmontage, als viele, aber eben nicht alle Geschäfte mittags dicht gemacht haben. Es ist ganz ruhig und trotzdem ist alles anders als einem normalen Sonn- oder „Feier“-Tag. Denn es herrscht Ausnahmezustand.
Es ist Tag eins in der Geisterstadt Witten. Erstmals seit Beginn der Corona-Krise müssen viele Geschäfte, Cafés und Lokale geschlossen bleiben. Die seit dem 19. März massiv verschärften Auflagen der Behörden im Kampf gegen die weitere rasante Ausbreitung des Coronavirus zeigen Wirkung. Es sind nur noch wenige Leute unterwegs.
DHL-Bote in Witten hat noch mehr zu tun als sonst
Wir beginnen unseren Nachmittagsbummel durch die City in der Stadtgalerie. Menschenleer. Nur die Post und der Bäcker sind auf. Ob er keine Angst habe, fragen wir den Schalterbeamten. Vielleicht ist die Frage ja dumm, weil eh kaum einer kommt. Er antwortet trotzdem. „Dann wäre ich nicht hier.“ Die Post gehört zu den Dienstleistern, die als unentbehrlich gelten. Bleibt sie denn geöffnet? „Stand heute: ja“, sagt der gute Mann. Der Reporter verabschiedet sich mit dem üblichen Gruß in diesen Tagen: „Bleiben Sie gesund!“
Am Ausgang treffen wir einen DHL-Boten, der gerade die Sackkarre die Treppen zur Poststraße runterwuchtet. Er hat mehr zu tun denn je. Das Virus ist gut für den Online-Handel. Liefert der Bote sonst 150 Pakete am Tag aus, sind es jetzt um die 200. „Alle bleiben zuhause. Wir arbeiten und bekommen nicht mal eine Atemschutzmaske“, sagt er. Und dann noch diesen Satz: „Wir sind ja keine Menschen.“
Bäckereiverkäuferin und Postbeamte allein in der Wittener Stadtgalerie
Hinterm Tresen bei Löscher am Stadtgalerie-Entree bedient Bäckereifachkäuferin Inna. Wie es sich anfühle, so ganz alleine im Center? „Sch….“, sagt sie offen heraus. „Aber das ist ja leider unser Beruf. Ob wir Angst haben oder nicht.“ Ein junges Pärchen kommt vorbei und bestellt vier Waffeln. „Das dauert aber acht Minuten“, sagt Inna. Immerhin hat ihr Arbeitgeber die Öffnungszeiten eingeschränkt. Wie andere Geschäfte auch, die an diesem seltsamen Tag noch immer geöffnet sind. Vor dm steht Kaba von der Security und passt auf, dass nicht zu viele auf einmal im Laden sind.
An der Ecke untere Bahnhofstraße/City-Bogen treffen wir Tanja, die gerade vor der Tür des Salons eine raucht. Ist ja eh nix los. Wer geht im Ausnahmezustand, noch dazu am ersten Tag, schon zum Frisör? Die 36-Jährige kann nicht verstehen, warum ihre Zunft die Läden noch öffnen darf. Man könne ja nicht einmal den nötigen Sicherheitsabstand zum Kunden wahren. Tanja nimmt’s mit Galgenhumor. „Hauptsache, die Haare sind schön, wenn wir in Quarantäne kommen.“ „Oder sterben“, sagt ihre Kollegin leise.
Das Wittener „Dolce-Vita-Team“ wünscht: „Bleiben Sie gesund“
Weiter geht’s, an der Eisdiele vorbei, die längst die Stühle reingestellt hat und wie alle anderen ein Schild in die Tür gehängt hat, als hätte sie sich in die Winterpause verabschiedet. „Bleiben Sie gesund. Hoffentlich bis bald. Ihr Dolce-Vita-Team.“ Bella Italia, süßes Leben, Sonne, Spaghetti-Eis und Pizza? Uns kommen eher die schlimmen Bilder von Beatmeten auf den Intensivstationen in den Sinn.
Yusuf vom Cafe Jané hat noch ein paar Tische in weitem Abstand voneinander draußen. Doch auch er muss gleich schließen. Um 15 Uhr ist „Sperrstunde“ für alle Restaurants und Systemgastronomien. Kneipen dürfen gar nicht mehr öffnen. Am Extrablatt packt der Kellner gerade die roten Sitzunterlagen zusammen. Trotzdem sind noch knapp zehn Tische besetzt, viele draußen in der milden Frühlingsluft. An einem stecken vier Männer die Köpfe zusammen. Corona? Geh mir weg. Lieber Kaffee trinken.
Ob’s bei Kodi in Witten noch Klopapier gibt?
Der Optiker ist noch auf, auch beim Hörgeräteakustiker brennt Licht, Wursthaus König und der Anadolu-Grill machen noch Außer-Haus-Verkauf. Bei Kodi kann man ebenfalls noch was kriegen (Klopapier?“), die Apotheken sind geöffnet und der Altnatura, wo die übliche Warteschlange ein bisschen kürzer ist als sonst. Alles andere: geschlossen – ob Galeria Kaufhof, Gassmann, Woolworth, die Mayersche oder Juwelier Gerling. Die Stadt macht ernst, ein Verstoß zöge hohe Geldbußen nach sich.
Nur mein Iraker hält unentwegt die Stellung in seinem Gemischtwarenladen namens Kiosk. Und im verschlossenen Reisebüro bei Galerie Kaufhof sitzen zwei Damen noch an ihren Schreibtischen – hinter vier großen bunten Leuchtbuchstaben: AIDA. Zurück am Medienhaus, treffen wir den ehemaligen langjährigen
Stadtsprecher Jochen Kompernaß (71) mit seiner Frau Regina. Er sagt, er müsse mal mit dem Hund raus. Sie verrät, dass er heute was zu feiern hat. Geburtstagsbummel in der Geisterstadt.https://www.waz.de/staedte/witten/coronavirus-en-landrat-muss-in-haeusliche-quarantaene-id228706547.html