Essen. . Die Männer-Welt der katholischen Kirche habe Missbrauch begünstigt, sagt Klaus Pfeffer, Generalvikar im Bistum Essen. Der Zölibat sei fragwürdig.
Mit der aktuellen Studie zu den Missbrauchs-Fällen hat die katholische Kirche die Zeit des Leugnens, Beschönigens und Vertuschens beenden wollen. Trotzdem wenden sich viele Gläubige ab. Wir sprachen mit Generalvikar Klaus Pfeffer über die späte Reue und die Herausforderungen der Kirche, über Zölibat und Frauen im Priesteramt.
Herr Pfeffer, Ihrer Kirche laufen die Gläubigen davon, selbst Caritasdirektor Björn Enno Hermans spielte mit dem Austrittsgedanken. Hat die Kirche jede Glaubwürdigkeit verloren?
Zumindest befinden wir uns in einer riesigen Glaubwürdigkeitskrise, die nicht nur mit dem Missbrauchsskandal zu tun hat. Die katholische Kirche hat jahrzehntelang von einem hohen Ross herunter den Menschen gesagt, wie sie zu leben haben, gerade im Bereich der Sexualmoral. Und plötzlich wird klar, wie zwiespältig diese Institution ist: Dass nämlich manche, die restriktive Botschaften verkündeten, nicht nur selbst weit hinter ihren Ansprüchen zurückgeblieben sind, sondern teilweise sogar Verbrechen begangen haben. Da kochen Wut und Enttäuschung so hoch, dass es für uns unglaublich schwer ist, Vertrauen zurückzugewinnen.
„Es ist beschämend, dass im Missbrauchsskandal das Ansehen der Kirche geschützt werden sollte, anstatt den Kindern zu helfen“
Die Opfer des Missbrauchs mussten erleben, dass die Kirche ihre Peiniger gedeckt hat. Wie kann die Kirche je gutmachen, was sie den Betroffenen angetan hat?
Die Studie zeigt, wie wenig das Leid der Opfer in diesen Jahren im Blick war. Es ist beschämend, dass das Ansehen der Kirche geschützt werden sollte, anstatt den Kindern zu helfen. Täter sind versetzt worden in der Hoffnung, der Missbrauch werde sich schon nicht wiederholen – ein folgenschwerer Irrtum! Die Verantwortlichen damals wollten nicht sehen, wie zerstörerisch sexuelle Gewalt ist. Hinzu kam die Angst vor öffentlicher Aufmerksamkeit. Aus heutiger Perspektive ist das alles eine Katastrophe.
Kritiker werfen der Kirche vor, jetzt nur Krokodilstränen zu vergießen, der Caritasdirektor vermisst eine echte Erschütterung. Fehlt ausgerechnet der Kirche das Mitgefühl?
Erschütterung kann wohl nur empfinden, wer den Schrecken persönlich an sich heranlässt, etwa indem er die Leidensgeschichte eines Betroffenen anhört. Wir brauchen deshalb die Bereitschaft, zuzuhören und auszuhalten, welches Leid Menschen in unserer Kirche erfahren mussten.
Aber natürlich ziehen wir auch Konsequenzen aus dem Skandal: Es gibt erhebliche Präventionsbemühungen und auch klar definierte Verfahrensschritte, die verhindern sollen, dass etwas vertuscht wird. Jeder Hinweis auf sexuelle Gewalt geht an eine unabhängige Missbrauchs-Beauftragte, die den ebenfalls unabhängigen Arbeitsstab Missbrauch hinzuzieht. Dann wird dem Bischof eine Empfehlung gegeben, was zu tun ist. Liegen Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch vor, geht der Fall an die Staatsanwaltschaft, die dann konkret ermittelt.
Reicht der Blick auf die einzelnen Täter oder anders gesagt: Welche Verantwortung trägt die Kirche?
Sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, aber für uns ist es natürlich besonders dramatisch, wenn so eine hohe Zahl von Priestern zu Tätern geworden ist. Wir haben es also offenbar mit einem „System“ zu tun, das sexuelle Gewalt begünstigt, und wir müssen klären, was genau deshalb verändert werden muss.
Welche Antworten liefert die Studie dazu?
Die Forscher weisen auf unsere Sexualmoral hin, die mit vielen Tabus behaftet ist. Sie fragen auch das Priesteramt an, das mit seiner Begrenzung auf das männliche Geschlecht eine machtvolle hierarchische Sonderwelt schafft. Auch der Pflichtzölibat wird problematisiert, weil der hohe Anteil an Priestern unter den Tätern auffallend ist. Es gibt also vieles, worüber wir dringend reden müssen.
Fordern Sie eine Abschaffung des Zölibats?
Wir können – ganz unabhängig vom Missbrauchsskandal – nicht die Augen davor verschließen, dass wir kaum noch Priesteramtskandidaten finden. Aktuell sind es im Bistum Essen sieben, während meiner Studienzeit vor 30 Jahren waren wir rund 100. Das hat natürlich viele Gründe – aber es wäre naiv zu glauben, der Zölibat wäre keiner davon. Sie merken also, dass ich Sympathie für die Forderung habe.
Außerdem weisen die Forscher darauf hin, wie schwierig der Zölibat zu leben ist. Sie kritisieren beispielsweise, dass in der Kirche der Zölibat als „Geschenk“ bezeichnet wird, obwohl Bindung und Sexualität für jeden Menschen sehr zentrale Bedürfnisse sind. Wer so leben will, braucht eine hohe menschliche Reife. Die Forscher bezweifeln, dass unsere Priester hinreichend auf den Zölibat vorbereitet werden. Ich kann aus meiner Geschichte bestätigen, dass während meiner Ausbildung die vielen Fragen des Zölibats kaum thematisiert wurden. Das darf nicht sein. Wir dürfen junge Menschen mit diesem sensiblen Thema nicht allein lassen – und sollten auch auf dem weiteren Weg fragen, wie es ihnen eigentlich geht.
Halten Sie eine rasche Abschaffung des Zölibats für möglich?
Das kann ich nicht einschätzen, weil dies eine weltkirchliche Frage ist. Aber es ist wichtig, dass wir darüber offen diskutieren und keine Denk- und Sprechverbote verhängen.
Sollte man dann nicht auch über Frauen im Priesteramt sprechen?
Theologisch ist diese Frage hoch aufgeladen, weil die Tradition in der katholischen Kirche hier ein enormes Gewicht hat. Aber auch hier gilt: Wir müssen offen über die gleichrangige Beteiligung von Frauen an allem Ämtern und Aufgaben in der Kirche reden. Und deshalb haben wir im Bistum Essen zuletzt verstärkt Leitungsfunktionen mit Frauen besetzt. Dass Jesus nur Männer in seinen Apostelkreis berufen hat, ist im Übrigen 2000 Jahre später ein schwer vermittelbares Argument, um Frauen für alle Zeiten aus den zentralen Ämtern der Kirche auszuschließen. Die Leute laufen uns bereits in Scharen davon. Da ist es für uns von existenzieller Bedeutung, dass die Menschen nicht ständig denken, die Kirche sei von vorgestern und zu keinerlei Veränderungen fähig.
Genau der Eindruck entsteht aber, wenn der Papst Frauen, die sich zu einer Abtreibung entschließen, mit Auftragsmördern vergleicht. . .
Das hat auch bei mir und in meinem Umfeld Erschrecken ausgelöst. Natürlich steht der Schutz ungeborenen Lebens ganz, ganz oben, aber ich muss doch wahrnehmen, dass Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt in einer hochdramatischen, komplexen Situation und unter unvorstellbarem Druck stehen. Da sehe ich für mich als Mann, der nie Vater geworden ist, überhaupt kein Recht, ein drastisches moralisches Urteil zu fällen. Wenn es um moralische Urteile geht, halte ich es lieber mit einem anderen Wort von Papst Franziskus: Die Kirche darf ihre Moral nicht wie einen Felsblock auf die Menschen werfen.
Das Bistum Essen gilt als eher progressiv und Sie persönlich haben Ihre Kirche zuletzt scharf kritisiert, wie reagieren die Leute darauf?
Vereinzelt habe ich im Internet schon mal aus konservativen Kreisen kritische Kommentare wahrgenommen, die meine Position für „bedenklich“ halten. Aber das ist eine Minderheit. Ich bekomme derzeit sehr berührende Zuschriften von Menschen, die die Kirche als Lebensheimat sehen und gleichzeitig mit ihr hadern. Sie verstehen mich und ich verstehe sie. Mir liegen mein Glaube und meine Kirche sehr am Herzen, deshalb äußere ich mich offen, ehrlich und auch kritisch.
Der Jahresüberschuss des Bistums Essen hat sich 2017 fast halbiert. Und Sie rechnen mit weiter sinkenden Einnahmen, liegt das an der steigenden Zahl der Austritte?
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Unabhängig von der durch den Missbrauchsskandal bedingten Krise, werden wir Mitte der 2020er Jahre einen gewaltigen Einbruch erleben: Schon allein deshalb, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Gleichzeitig ist die Bindung zur katholischen Kirche in den nachfolgenden Generationen erheblich schwächer und die Austrittsbereitschaft höher. Das ist für uns bedrohlich, weil unser Bistum so abhängig von der Kirchensteuer ist.
Wie wollen Sie die Austrittswilligen halten?
Wir müssen deutlich machen, dass man mit einem Austritt nicht einzelne Bischöfe oder eine anonyme Institution abstraft, sondern das Leben in unseren Gemeinden, Schulen, Kitas und sozialen Einrichtungen schwächt.
Warum sollte das die Kirchenkritiker zum Bleiben bewegen?
Weil unsere Gesellschaft viel zu verlieren hat, wenn all das verschwindet, wofür die christlichen Kirchen stehen. Nach wie vor finden viele Menschen in unseren Kirchen konkrete Lebenshilfe, finden Gemeinschaft und nicht zuletzt Werte und Orientierungen, die für unser Zusammenleben von großer Bedeutung sind. Im Bistum Essen versuchen wir ja schon seit vielen Jahren mit unserem Zukunftsbildprozess, unsere Kirche so auszurichten, dass sie in die Breite unserer Gesellschaft wirkt und ausstrahlt. Wir wollen eine Kirche sein, die offen und vielfältig ist, um möglichst vielen Menschen die Faszination des christlichen Glaubens zu vermitteln.
Reicht der Pfarrei-Entwicklungs-Prozess, um das Bistum zukunftsfest aufzustellen?
Der Pfarrei-Entwicklungs-Prozess ist ein Teil eines sehr großen Veränderungsprozesses, der einerseits der Tatsache Rechnung trägt, dass wir eine deutlich kleinere Kirche werden. Andererseits aber wollen wir als kleinere Kirche für die Menschen anziehend und attraktiv sein. Das ist eine paradox anmutende Herausforderung, die manche auch innerlich zerreißt. Aber christliches Leben ist nun mal Wandel und Veränderung; Loslassen und Aufbrechen. So hat es vor 2000 Jahren angefangen – und die Kirche hat sich seither stets verändert, auch wenn das manch einer gerne verdrängt. Darum lasse ich mir meine Zuversicht nicht nehmen.