Wattenscheid. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen vor 75 Jahren die Zwangsarbeiter in Wattenscheid frei. Die Brennerei Schulte-Kemna in Leithe geht in die Luft.
Eine Taube, das Friedenssymbol, schmückt heute das Taufbecken in der evangelischen Kreuzkirche an der Gelsenkirchener Straße in Wattenscheid-Leithe. Eine Inschrift erinnert an die Geschichte, sowohl des Beckens, wie auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren – und an die ebenfalls schlimmen Geschehnisse in der Nähe.
Denn die Alarmglocke in Leithe warnte vor „Polenüberfällen“, wurde 1952 im Gedenken umgearbeitet zum Taufbecken. Sie bleibt damit ein ungewöhnliches Zeugnis für die Geschichte der Zwangsarbeit in Wattenscheid, die nach der Befreiung im Frühjahr 1945 noch zu einer Katastrophe führte und Menschenleben bei der Explosion der Brennerei Schulte-Kemna forderte.
Andreas Halwer, viele Jahre Stadtarchivar und intimer Kenner Wattenscheids, hat detaillierte Erinnerungen an die Zeit direkt nach Kriegsende im Frühjahr 1945 zusammengetragen. Zuerst bei Bottrop, dann in Gelsenkirchen und Wanne-Eickel werden im Frühjahr 1945 die Emscher und der Rhein-Herne-Kanal überschritten. Dabei stoßen die Amerikaner auf keinen sehr großen Widerstand. Die verbliebenen deutschen Truppen der Wehrmacht sind vollkommen erschöpft. Sie setzen sich nach und nach ab und überqueren die Ruhr, um sich im Sauerland neu zu formieren.
So wird Wattenscheid am 10. April fast kampflos eingenommen. Die Eroberer stoßen von Gelsenkirchen aus nach Günnigfeld vor, von Kray aus erreichen sie Wattenscheid über die Weststraße und von Steele aus ziehen die Truppen über den Hellweg nach Sevinghausen und Höntrop, wo sie sich mit den über Westenfeld heran nahenden Panzern vereinigen.
Fast kampflos eingenommen
Im heutigen „Germanenviertel“ bezog eine starke Flak Stellung, die auch für den Erdkampf gefährlich werden kann. Diese ist jedoch längst geräumt. Die Wattenscheider erleben den Einmarsch als Befreiung – oder als Niederlage.
Der Höntroper Pfarrer Anton Thiemeyer berichtet in der Pfarrchronik: „Die Panzer kamen auch über die Varenholz- und Zollstraße. Dorthin legte unsere Flak einige Salven von je vier Schuss ohne Wirkung. Panzer kommen von Infanterie flankiert bis zur Kirche. Zugleich kommen Infanteristen (Amerikaner) durch die Hönnebecke und Vincenzstraße, wohl zwei Gruppen a zehn Mann, das Gewehr im Anschlag. Die Gartenschwester hielt die Hände hoch, die Amerikaner lachten und kümmerten sich nicht darum.
Inzwischen waren unsere Flakgeschütze zersprengt. Die Stellung rauchte. Die Flakhelfer waren abgezogen. An der Tankstelle machten die Amerikaner halt.“
Opfer noch zum Kriegsende
In Eppendorf ging es nicht kampflos zu. In der Nähe des Klosters hatte sich der „Volkssturm“ auf einen Angriff aus Richtung Höntrop eingegraben. Die Amerikaner kamen jedoch von der anderen Seite. Zehn tote „Volkssturmmänner“ waren die Folge. Sinnloses Opfer für einen lange verlorenen Krieg. Insgesamt kommen 2080 Wattenscheider im Krieg um, darunter 1752 Soldaten.
Nach der Befreiung ist das öffentliche Leben zusammengebrochen. Die Lebensmittelversorgung stockt. Dies trifft vor allen Dingen die „Ostarbeiter“, die Zwangsarbeiter, die in Lagern zusammengepfercht leben. Die durch die alliierten Truppen Befreiten erhalten nichts mehr zu essen. Ihnen bleibt nichts Anderes übrig, als sich Lebensmittel zu „besorgen“. Noch kurz vor der Befreiung war eine Gruppe von Zwangsarbeitern in Höntrop ermordet worden. Der Hass der bisherigen Peiniger auf die geschundenen Zwangsarbeiter schlägt nun auf die Bevölkerung zurück.
Archiv
Zu Schulte-Kemna ist leider im Archiv des Presse- und Informationsamtes nichts zu finden. Als das Wattenscheider Archiv nach Bochum kam, wurde offenbar der Schnitt „Vor dem Krieg - zum Stadtarchiv, nach dem Krieg - zum Presseamt“, gemacht. Zu Zwangsarbeitern in Wattenscheid ist aktenkundig, dass es Lager in der Ziegelei am heutigen Lohrheidestadion und am Marianneplatz gab. Der Mariannenplatz wurde danach, wie so viele Lager, für Flüchtlinge, Ausgebombte, Gastarbeiter oder „Randgruppen’“ benutzt (damals sogenannte Schlichtwohnungen).
Aus der Zeit existieren Fotos, die aber auch nicht mehr der Lagerzustand dokumentieren. Bei dem Bild sind vorne noch typische Baracken zu erkennen, hinten Häuser, die wohl nach 1955 gebaut wurden. In der Talstraße ist zur Erinnerung eine Tafel angebracht, die vom Heimat- und Bürgerverein neu gestaltet wurde.
Zeugen erzählen von Toten am Bach
Die Brennerei Schulte-Kemna in Leithe wird bei einer Plünderung durch Zwangsarbeiter und Einheimische zur Todesfalle: Das Schnapslager fliegt durch unvorsichtigen Umgang mit Feuer und Alkohol in die Luft. Wie viele Tote zu beklagen sind, wird nie ganz geklärt, schließt Andreas Halwer.