Eppendorf/Ghana. Seit 15 Jahren engagiert sich Marco Stanitzek in Ghana. In der WAZ schildert der Wattenscheider, wie er die Corona-Krise in Afrika erlebt.

Soziale Distanz, zuhause bleiben? „Das geht hier nicht“, urteilt Marco Stanitzek (45) aus Wattenscheid knapp. Der gebürtige Eppendorfer lebt und wirkt seit 2005 in Ghana. Über die Corona-Pandemie sagt Stanitzek: „Ich lasse mich zwar nicht verrückt machen, sorge mich nicht um unser Center und unser Projekt. Aber um die Menschen.“

Corona: Ein Wattenscheider schildert die Probleme in seiner Wahl-Heimat Ghana

Offiziell sind Ghanas Fallzahlen vergleichsweise noch niedrig. Das liege aber vor allem an fehlenden Tests, schätzt Marco Stanitzek. Nur die wenigsten könnten sich einen solchen leisten, „falls sie überhaupt die Möglichkeit dazu haben.“ 2169 Infizierte meldete die Johns-Hopkins-University am 4. Mai, die Zahlen steigen. 18 Menschen sind im westafrikanischen Staat laut Angaben bisher verstorben.

Marco Stanitzek mit Aloe-Vera-Pflanzen. Daraus wird im Dorf Desinfektionsmittel in Eigenproduktion hergestellt.
Marco Stanitzek mit Aloe-Vera-Pflanzen. Daraus wird im Dorf Desinfektionsmittel in Eigenproduktion hergestellt. © MS

Die Kurve der Infektionen abzuflachen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, bringe nichts, sagt Marco Stanitzek: „Das Gesundheitssystem in Ghana ist längst überlastet – auch ohne das Virus.“ Herauszögern sei keine Alternative. „Covid-19 ist eine schlimme Krankheit, die sich hier nicht ausbreiten darf. Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens, die in manchen Gebieten besonders streng waren, treffen die Menschen hier aber schon jetzt richtig hart“, berichtet Stanitzek.

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Anders als in Deutschland hieße in Ghana ein Tag zuhause: kein Geld, kein Essen. Marco Stanitzek: „Die wenigsten haben Jobs, mit denen sich das stemmen lässt. Und auch dann geht’s nur für eine gewisse Zeit, wie sich gezeigt hat. Dürfen die Marktfrauen tagsüber nichts verkaufen, fehlt ihnen das Geld abends für Lebensmittel.“

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Gleichzeitig steigen die Preise, fährt Marco Stanitzek fort: „Das ist das größte Problem zusammen mit dem Rückgang der Wirtschaft und den Einschränkungen im gesellschaftlichen und geschäftlichen Bereich. Die Leute hier sind am Limit.“ Stanitzeks Einschätzung zur Wirtschaft allgemein ist eine drastische Metapher in Zeiten der Corona-Krise: „Die ist ein Koma-Patient. Und jetzt wurden die Beatmungsmaschinen abgestellt.“

Soziale Distanz? In Ghana undenkbar

„Soziale Distanz“ sei in Ghana schlicht utopisch: „Wie soll das funktionieren? Die Menschen leben in manchen Bezirken in großen Gruppen zusammen, teilen sich öffentliche Toiletten. Da kannst du keine Distanz zu irgendwem halten oder dir regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen.“ Erschwerend hinzu kommen die hohen Temperaturen: „Wer dauerhaft in der Hütte bleiben muss, stirbt hier eher am Hitzschlag. Auch das ist leider Realität.“

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Seit 15 Jahren engagiert sich der ehemalige Eppendorfer in Ghana in der Upper East Region, hat u.a. in Anateem (Bolgatanga) das Center „Saanema Institute of Creativity“ gegründet und aufgebaut. Vor allem Jugendliche und alleinerziehende Mütter bilde man dort aus, um ihnen Chancen auf Arbeit zu ermöglichen.

Helfen unter schwierigen Bedingungen

Neben dem Auf- und Ausbau des eigenen Ausbildungszentrums, setzen sich Marco und Sophia Stanitzek besonders für kranke, hilfsbedürftige Kinder ein. So konnten sie mithelfen, die jungen Leben von Perseus und Princess retten. Auch durch Spenden aus Wattenscheid und Bochum.

Schon damals sprach der Exil-Eppendorfer von einer Odyssee auf der Suche nach medizinischer Hilfe: „Wir haben vier Krankenhäuser abgeklappert, nur um ein funktionierendes Röntgengerät zu finden, sind stundenlang gefahren und mussten manchmal acht Stunden auf einen Termin warten.“

Der „Lockdown“ hat auch ihr Center betroffen. Es ist geschlossen, Unterricht findet nicht mehr statt. Längst nicht alle Auszubildende könnten zurück nach Hause, sagt Marco Stanitzek: „Drei Jugendliche wohnen jetzt erstmal bei uns, weil sie sonst auf der Straße sitzen würden. Irgendwie halten wir uns über Wasser, die Grundversorgung aufrecht. Auch wenn unsere Haupteinnahmen durch unser Friseur-Geschäft fast komplett weggebrochen sind.“

Dafür stelle man jetzt eigenes Desinfektionsmittel im Dorf für die Gemeinschaft her. Marco Stanitzek: „Das kann sich sowieso keiner mehr leisten, die Preise sind auch dafür explodiert. Wir fügen bei uns Aloe-Vera-Pflanzen hinzu, um die Hände natürlich zu pflegen.

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Stanitzek hofft, dass die weltweite Krise vielen „Menschen hier die Augen öffnet. Wir haben Rohstoffe und so viele Potenziale, es muss sich aber grundlegend etwas ändern. Wenn Corona auf Sicht auch eine Chance bieten kann, dann durch eine Einsicht: Wir sind alle gleich und alle betroffen. Jetzt müssen wir auch zusammen nach Wegen für alle aus der Pandemie suchen.“

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