Oberhausen. Der altertümliche Status des Verlobtsein war es, der einen Vater, der höchstwahrscheinlich sein Kind zu Tode geschüttelt hatte, vor dem Gefängnis bewahrte.

Es passierte am 7. Juli 2009. An diesem Sommertag ereignete sich in einem Haus an der Stöckmannstraße mitten in Oberhausen etwas unvorstellbar Schreckliches. Das Leben eines gerade einmal knapp sieben Monate alten Jungen wurde zerstört. Zwei Jahre später verurteilte das Schöffengericht unter Vorsitz von Richter Peter Dück einen portugiesischen Staatsbürger wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und schwerer Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe.

Mutter arbeitete als Prostituierte

Damit hatte sich das Gericht für das höchste ihm mögliche Strafmaß entschieden. Doch der Täter ging in Berufung und wurde in zweiter Instanz freigesprochen – und das aus einem einfachen Grund.

Die traurige Geschichte: An jenem schicksalsträchtigen Juli-Tag ging die Mutter des kleinen Jungen gegen Abend zur Arbeit. Sie verdiente ihr Geld als Prostituierte an der Flaßhofstraße. Ihren Sohn ließ sie beim Vater, mit dem die Frau jedoch nicht verheiratet war.

Irgendwann in der Zeit zwischen 20 und 24 Uhr soll der Portugiese den Jungen so heftig geschüttelt haben, dass er schwerste Hirnverletzungen erlitt. Während einer Notoperation mussten später Teile des Großhirns abgetragen werden, weil sie zerstört waren. Die Folge: Das Kind konnte nichts mehr wahrnehmen, vegetierte dahin.

Aussagen von Zeugen und Gutachtern

Vor Gericht gab sich der Täter schweigsam. Weil er nicht aussagen wollte, sahen sich Dück und die Schöffen in der Beweispflicht. Das Gericht sammelte Aussagen von Zeugen und Gutachtern.

So hatte der Mann selbst den Notarzt gerufen, als er merkte, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Gegenüber dem Arzt und einem Sanitäter erklärte der Mann in jener Nacht, dem Kind nur etwas zu trinken gegeben zu haben. In dem noch am 9. Juli erstellten rechtsmedizinischen Gutachten wurde jedoch zweifelsfrei eine „lebensgefährliche Kindesmisshandlung“ festgestellt.

In einem Gespräch mit einer Sozialarbeiterin der Stadt hatten sowohl die Mutter als auch der Angeklagte erklärt, die Mutter sei zur Arbeit gegangen. Der Vater habe auf das Kind aufgepasst. Niemand sonst sei in der Wohnung gewesen. Als der Junge sich sonderbar verhalten habe, habe der Mann zunächst die Mutter, dann den Notarzt angerufen.

Verlobung als Schutzbehauptung

Ein Rettungssanitäter, der als einer der ersten am Tatort eintraf, fand dort lediglich den Angeklagten vor. Der war – wie gesagt – vor Gericht schweigsam. Nur einmal meldete er sich zu Wort und erklärte plötzlich: „Ich bin seit dem 27. März 2009 mit der Mutter des Kindes verlobt.“ Eine „Schutzbehauptung“, wie das Gericht befand. Denn in diesem Fall wäre die Aussage der Mutter gegenüber der Sozialarbeiterin nicht mehr verwertbar gewesen. Sie hatte zudem das Recht, ihre Aussage zu verweigern. Davon machte sie prompt Gebrauch. Zunächst, um sich nicht selbst belasten zu müssen. Dann, weil sie doch mit dem Angeklagten verlobt sei.

Das Gericht bat daraufhin eine Dolmetscherin in der Sizilianischen Heimat der Mutter anzurufen. Dabei kam heraus: Die Frau war in Sizilien noch verheiratet, konnte also gar nicht verlobt sein. Damit galt ihre Aussage. Das Gericht verhängte die ihm mögliche höchste Strafe.

Der Angeklagte legte gegen das Urteil Widerspruch ein. Beim Termin in zweiter Instanz war die Mutter geschieden. Einer Verlobung stand nichts im Wege. Die Aussage der Frau fiel weg. Der Mann wurde freigesprochen. „Der Freispruch war völlig korrekt“, sagt Dück. Das Kind war zwischenzeitlich an den schweren Verletzungen gestorben.