Oberhausen. . 2225 Tage nach einem brutalen Überfall soll Philipp Ramseger in eine JVA, obwohl der junge Mann kurz vor einem Schulabschluss steht. Lehrer und Eltern sind geschockt. Reagierte die Justiz zu langsam? Eine Spurensuche in Oberhausen.
Philipp Ramseger ist 2005 vom Amtsgericht Oberhausen zu einer zehnmonatigen Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Sechs Jahre später macht der einstige Schulverweigerer seinen Abschluss nach, hat einen Ausbildungsplatz in Aussicht. Jetzt soll er in eine Justizvollzugsanstalt.
Wie kann das sein? Amtsgerichts-Direktor Berthold Bendorf sagt: „Der Aufenthaltsort des Jungen war uns nicht bekannt.“
Die Tat:
12. April 2005, 3 Uhr nachts. Philipp Ramseger, 18, zieht mit zwei Kollegen (16 und 20) durch den Stadtteil Schwarze Heide. Sie klingeln bei einem Bekannten. Als dieser die Wohnungstür öffnet, schlägt Philipp Ramseger zweimal mit einem Baseball-Schläger kräftig auf ihn ein. Die Dreierbande hat es auf eine Geldkassette abgesehen. Doch die ist leer. Nun nehmen sie eine Digitalkamera und ein Portemonnaie mit. Das Opfer läuft den Einbrechern nach, fordert die Geldbörse zurück. Ramseger überreicht sie ihm. Einige Tage später wird die Digitalkamera zurückgegeben.
Das Urteil:
Am 31. August 2005 werden die Jugendlichen verurteilt: schwerer Raub im minder schweren Fall. Der Angeklagte Philipp Ramseger wird zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Wegen schädlichen Neigungen, wie es im Urteil heißt. Ein zweiwöchiger Arrest, den er nur kurz vor der Tat im März 2005 wegen einer Beleidigung samt Diebstahl verbüßt hatte, habe ihn „offensichtlich gänzlich unbeeindruckt gelassen“, erklärt der zuständige Richter Karl-Heinz Carra.
Das Ende der Bewährung:
Die Bewährung ist im Dezember 2007 widerrufen worden. Philipp Ramseger hatte Auflagen nicht erfüllt, hielt Termine mit dem Bewährungshelfer nicht ein und versäumte, seine 80 Sozialstunden sowie ein Anti-Aggressionstraining zu absolvieren. Im Januar 2008 ist er zum Strafantritt „geladen“ worden, wie es im Juristendeutsch heißt. Philipp Ramseger folgte der Einladung nicht. Nach einem Beugearrest während der Bewährungsstrafe – einer Arrest-Maßnahme, die nur angeordnet wird, wenn die Uhr bereits fünf vor zwölf schlägt – musste er für einen Monat in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden. Dort, so behauptet der heute 24-Jährige, sei er für haftunfähig erklärt worden. Er habe gedacht, nun sei die Strafe abgegolten.
Die Vollstreckung:
Anfang Februar 2011 kam ein Brief, der ihn aus allen Wolken fallen lies. Nun solle der Haftbefehl vollstreckt werden. „Philipp, was hast du wieder angestellt?“, fragte der besorgte Vater, Volkhard Ramseger, Diplom-Kaufmann. „Nichts, gar nichts. Das muss immer noch die Sache von damals sein.“ Es war die Sache von damals.
Am 6. Mai 2011 erfährt Ramseger, dass sein Handy für die letzten 80 Tage sowie zukünftig drei Monate geortet werden darf. Er hat sich offenbar nicht ordnungsgemäß umgemeldet, als er bei seiner Großmutter einzog. Doch er besucht die Volkshochschule, bezieht Sozialleistungen und an ihn gerichtete Schriftstücke erreichen die Adresse seiner Großmutter. Wenn die Justiz ihn hätte finden wollen, sie hätte es innerhalb von drei Jahren wohl schaffen können.
Philipp sitzt am Küchentisch in der Wohnung seines Vaters, legt das Oxford-Wörterbuch für seine Englisch-Hausaufgaben zur Seite. „Ich habe damals Scheiße gebaut. Ich bereue, was ich getan habe, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen.“
Erst seit März 2010 hat das Scheidungskind wieder Kontakt zu seinem Vater, den er früher als zu streng empfand. Mit ihm erarbeitete er einen Masterplan Zukunft, holt jetzt seinen Schulabschluss nach. Sein Vater sagt: „Philipp ist vom Saulus zum Paulus geworden.“ Das sind bedeutungsschwere Worte. Alles nur Sozialromantik?
Hinter vorgehaltener Hand sagen Mitarbeiter der Stadt, die Ramseger persönlich kennen, dass „es vorbildlich sei, was Philipp mit seinem Vater in den vergangenen eineinhalb Jahren erreicht hat.“ Ein Kriminologe der Ruhr-Universität Bochum mutmaßt, ohne die Akte genau zu kennen: „Ganz offensichtlich hat da ein Jugendrichter etwas über das Ziel hinausgeschossen oder geschlampt.“ Amtsgericht-Direktor Berthold Bendorf widerspricht vehement. Dass der Haftbefehl erst jetzt vollstreckt würde, habe nichts mit einem über die Strenge schlagenden Jugendrichter zu tun. „Das ist kein Einzelfall.“
Warum Ende März 2011 nicht einmal die Vollstreckung aufgeschoben wurde, bis Ramseger im Sommer seinen Hauptschulabschluss in der Tasche hat, begründet Bendorf nicht. Er könne nun im Vollzug zeigen, was er für ein guter Junge geworden sei, soll ein Richter am Telefon gesagt haben.
Gute Sozialprognosen: Positive Sozialprognosen beeindrucken das Gericht nicht. Sein Politik- und Geschichtslehrer, Ludger Mels, lobt, dass Philipp auf dem „richtigen Weg“ und gut integriert sei. Er bringe schulische Leistungen, die ihm eine stabile Zukunft ermöglichen und habe nun wieder familiären Halt. Ein weiterer Lehrer schreibt in einer Beurteilung, dass Philipp Ramseger „in keinster Weise“ aggressiv oder konfliktfreudig, sondern zurückhaltend und rational sei.