Oberhausen. . Leonid Melnyk hat ein Jahr nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl bei den Aufräumarbeiten geholfen. In Oberhausen erzählte der ehemalige Offizier von seinen Erlebnissen als “Liquidator“ nach der Atomkatastrophe.
Im Radio sprachen sie von einem Unfall. Es war gerade 21 Uhr, Leonid saß noch am Küchentisch, mit seiner Frau, seinen beiden Söhnen, da sagte jemand im Radio etwas von einem Unfall und einem Brand. In einem Kraftwerk, das über 600 Kilometer von seinem Haus in Charkiw entfernt war. Sehr weit weg, dachte Leonid.
Der Mann im Radio sprach nicht von Gefahr und Leonid hatte keine Angst. Auch dann nicht, als er ein Jahr später in das strahlenverseuchte Gebiet nahe dem Atomkraftwerk von Tschernobyl fuhr.
"Liquidatoren"
Dort war am 26. April 1986 nach einem missglückten Experiment einer der Reaktoren explodiert. Um die Schäden zu beseitigen, wurden nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation bis zu 600.000 Ukrainer in die Region geschickt. Liquidatoren nannte man sie, weil sie die radioaktive Strahlung „liquidieren“, also beseitigen, sollten. Sie spritzten mit Reinigungsmitteln die Häuserdächer ab, beseitigten dort den belasteten Teer, dichteten die Dächer wieder neu ab - und gruben verseuchten Boden um. Oberst Leonid Melnyk war einer von ihnen.
„Man hat sich keine Gedanken über die Gefahren gemacht, weil auch niemand darüber sprach“, sagt Melnyk heute. Zum Interview in den Räumen der Liberalen Jüdischen Gemeinde hat der 66-Jährige zwei Ausweise mitgebracht. Blau ist der erste, der ihm vor dem Beginn seiner Arbeit in Tschernobyl ausgestellt wurde. Das rundliche Gesicht auf dem Foto gehört einem muskulösen Mann, der sich im Fünfkampf behaupten konnte.
Sein Blick ernst, die Lippen aber zu einem leichten Lächeln gebeugt. Fast zynisch ist der Mund auf dem zweiten Ausweisbild verzogen, das Gesicht eines alten Mannes, so hager, dass sich die Wangenknochen zeigen. Jahre könnten zwischen den beiden Bildern liegen. Es sind nur zwei Monate: Vom 21. Mai bis zum 15. Juli 1987 hatte Leonid Melnyk 46 Einsätze in Tschernobyl, 35 Mal hat er auf dem Reaktorgelände gearbeitet, manchmal ganze Stunden, manchmal auch nur wenige Minuten, je nachdem wie hoch die Strahlung war.
30 Kilometer Einöde
In einem Lager am Rand der Sperrzone waren die Helfer untergebracht. Jeden Morgen sind sie um vier Uhr aufgestanden, um gegen fünf mit dem Bus bis an den Reaktor zu fahren. 30 Kilometer Einöde, vorbei an verwaisten Straßenzügen und leeren Häusern, einige Türen halb geöffnet, als ob jemand nur kurz den Müll herausbringen wollte. Unangenehm sei diese Fahrt jedes Mal gewesen, erinnert sich Melnyk heute: „Da wollte niemand lange bleiben.“
Ihre Kleidung tauschten die Liquidatoren gegen Schutzmäntel, ihre Papiere gegen einfache Schutzmasken ein, die nur Mund und Nase bedeckten. Mit Wasser haben sie dann alles abgespült, die Wände des beschädigten Reaktors, Hausdächer, Wege und Zufahrten, damit die radioaktiven Teilchen, die sich nach der Explosion des Reaktors in der Luft verteilt hatten, nicht mit der trockenen Erde vom Wind weiter getragen werden. „Das war unsere Aufgabe, alles mit Wasser zu reinigen.“
Kratzen im Hals
Melnyk hatte dabei stets die Strahlendosis im Auge, der die Arbeiter ausgesetzt waren. War sie zu hoch, mussten die Liquidatoren ausgewechselt werden, manchmal im Fünf-Minuten-Takt. Tage nach Beginn seines Einsatzes bemerkte Melnyk erstmals ein Kratzen im Hals, bald zeigte sein Blut Anomalien, seine Zahnkronen musste er sich entfernen lassen, weil die Zähne darunter porös wurden.
Jeder habe ein Messgerät gehabt, doch viele hätten die Risiken ignoriert. „Hat sich der Blechdeckel eines Einmachglases verfärbt, hat man den Inhalt trotzdem gegessen“, erinnert sich Melnyk.
Wenn die Helfer von der Arbeit zurückkamen, tranken sie Wodka und spielten Karten, erzählten sich Witze. Manchmal kamen auch schöne Sängerinnen zu Konzerten ins Lager, die die Helfer bei Laune halten sollten.
Orden "fürs Überleben"
Bevor Melnyk nach Hause durfte, bekam er bei einem kleinen Festakt einen Orden, einen zweiten gab es 15 Jahre nach seinem Einsatz, dann noch einen vor fünf Jahren. „Fürs Überleben“, sagt Melnyk leise und legt die Orden zu seinen beiden Ausweisen aus Tschernobyl.
Einen weiteren Pass habe er, der belege, dass er Strahlen der höchsten Kategorie ausgesetzt war. Wie ein Behindertenausweis sei das, meint Melnyk. Damit könne er kostenlos Bus und Bahn in der Ukraine fahren, darf einmal im Jahr in Kur, erhält seine Arzneien.
Welche seiner vielen Krankheiten wirklich durch die Zeit in Tschernobyl verursacht wurden, weiß er nicht. Nur dass viele seiner Kameraden mit ihrer Gesundheit zu kämpfen haben. Einige seien bereits verstorben.