Essen/Kassel. Mit dem antisemitischen Banner wurde auf der Documenta ein Stein des Anstoßes entfernt. Dabei wäre eine Fortsetzung der Debatte nötig.

Das antisemitisch belastete Banner „People’s Justice“ von der Documenta zu entfernen, war die falsche Reaktion. Dieser Stein des Anstoßes hätte ruhig weithin sichtbar verhüllt hängenbleiben sollen. Denn es gibt noch eine ganze Menge zu bereden über diesen Kunstskandal, in den die Documenta-Verantwortlichen sehenden Auges hineingelaufen sind. Das Abräumen suggeriert nur, damit sei nun alles wieder in Ordnung gebracht. Es würgt ausgerechnet die Debatte über diesen Kunstskandal ab, die noch das Beste daran ist.

Was da auf dem anti-imperialistischen, anti-militaristischen Banner des indonesischen Kunst-Kollektivs Taring Padi auch zu sehen ist, erfüllt den Tatbestand antisemitischer Klischees in einer Offensichtlichkeit, vor der man schon die Augen verschließen muss, um sie nicht wahrzunehmen. Ja, es ist die Sichtweise des globalen Südens auf die sozialen Konflikte, um die es bei dieser Documenta ja vor allem gehen soll. Für diesen Süden aber ist Israel genauso wie Europa, wie Deutschland Teil des Problems, wenn es um soziale Konflikte geht. Der Kolonialismus alter Zeiten, aber auch die moderne Ausbeutung kann nicht für jedes Problem des Südens verantwortlich gemacht werden – aber viele von ihnen wurzeln eben doch darin.

Antisemitismus ist überall falsch, auch in Indonesien

Wahrzunehmen, wie andere uns wahrnehmen, kann nicht falsch sein. Aber eindeutig falsch ist es, mit antisemitischen Klischees Agitation zu betreiben. Das gilt überall auf der Welt, wo der Antisemitismus seit Jahrzehnten weiter anschwillt; aber es gilt in Deutschland, dem Land des fabrikmäßigen Mords an sechs Millionen Juden, erst recht.

Wie hat die Documenta-Leitung, wie hat das organisierende Kollektiv Ruangrupa nur glauben können, ein solches Banner ungestraft zeigen zu können? Dass es überhaupt aufgehängt wurde, grenzt an Realitätsverweigerung. Dass Ruangrupa oder auch den Urhebern von Taring Padi der Antisemitismus in dem Bild nicht aufgefallen ist, wäre schon schwer genug zu glauben. Aber in einem Land, in dem mit über 210 Millionen Muslimen (das sind 88 Prozent der Bevölkerung) mehr leben als in jedem anderen Land der Welt, mag es einen anderen Blick auf Antisemitismus geben als hierzulande.

Auslöser BDS-Kampagne schon bei der Ruhrtriennale 2018

Jedenfalls liegt die Schwelle, ab der in Deutschland etwas als antisemitisch gilt, deutlich niedriger als überall sonst auf der Welt, Israel vielleicht sogar eingeschlossen. Als die Ruhrtriennale 2018 die schottische Band „Young Fathers“ eingeladen hatte, reichte deren Weigerung, sich von der anti-israelischen, teils auch antisemitischen BDS-Bewegung zu distanzieren, um sie wieder auszuladen. Damit bediente man sich der Mittel der BDS-Kampagne und boykottierte unter dem Segel des Antisemitismus-Vorwurfs die Boykotteure sogar dann, wenn deren Kunst gar nicht antisemitisch ist (oder man es gar nicht beurteilen kann, weil sie noch gar nicht aufgeführt worden ist). So wirksam kann selbst ein vorläufiger Antisemitismus-Verdacht in Deutschland schon werden, zumal nicht nur der Bund, sondern auch alle Bundesländer außer Bremen „Antisemitismus-Beauftragte“ haben, die ja nicht dazu da sind, ihre missverständliche Amtsbezeichnung in die Tat umzusetzen, sondern als Mahner und Warner.

Allein das schon hätte bei der Documenta-Geschäftsführung, beim Documenta-Aufsichtsrat und erst recht bei dem Beirat, der erstmals zur Begleitung der Documenta 15 geschaffen wurde, die Alarmglocken in Dauerbereitschaft versetzen müssen. Aber offensichtlich hat es niemand aus diesen Gremien, in denen ja auch die hessische Kunstministerin Angela Dorn sitzt, vermocht, dem indonesischen Kuratorenteam die Grenzen der Kunstfreiheit in Deutschland so deutlich klarzumachen, dass sie sich das Banner, das erstmals 2002 in Adelaide beim South Australia Art Festival gezeigt und für die Documenta eigens restauriert wurde, vor der Aufhängung am Freitag noch einmal genauer angeschaut hätten.

Es gab massive Vorwarnungen für Angela Dorn und die anderen Verantwortlichen

Aber es hat ja noch mehr Vorwarnungen gegeben, deutliche: Schon seit Beginn des Jahres schwillt eine Antisemitismus-Debatte rund um die Documenta 15 an; sie begann mit Hinweisen auf Künstler und Gruppen, die dem BDS nahestehen. Kultur-Staatsministerin Claudia Roth (Grüne) versuchte zu Recht, den Konflikt wegzumoderieren; eine öffentliche Diskussion darüber, die verrückterweise ohne den Zentralrat der Juden in Deutschland stattfinden sollte, wurde abgesagt. Man scheint auf das Prinzip Hoffnung gesetzt zu haben, zumal es sich ja vor Beginn der Weltkunstschau in der Tat noch um Vorverurteilungen handeln musste, die sich nicht auf die gezeigte Kunst bezogen.

Wer bei der Vorab-Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch die Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann und Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) erlebt hat, kann sich schon vorstellen, dass die rundum positive, ja fröhliche Ausstrahlung des Kuratorenkollektivs Ruan­grupa und die gute Absicht, kritische, unkommerzielle, politische und sozial wirksame Kunst aus dem globalen Süden zu präsentieren, ihnen die Sinne etwas vernebelt haben. Es wäre auch nicht ihre Aufgabe gewesen, die kritisierte Kunst selbst in Augenschein zu nehmen. Aber sie und der Beirat hätten die Kuratoren sensibel dafür machen müssen, dass Antisemitismus in Deutschland nicht geduldet werden darf.

Das tiefere Problem könnte darin liegen, dass die indonesischen Kuratoren die Zeichen für Antisemitismus gar nicht erkennen, nicht erkennen können oder wollen. Umso wichtiger wäre es, die Debatte darüber eher noch anzufachen als zu beerdigen. Dass die Documenta 15 ohnehin als „die mit dem Antisemitismus“ in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist wohl schon jetzt nicht mehr zu verhindern.