Oberhausen. Eine mörderisch spannende Schlossnacht in der Ludwiggalerie: Schauspielerin Christine Sommer liest Ferdinand von Schirach und begeistert.
Dass es einem zwischendurch eiskalt den Rücken hinunterlief, machte die vier Jahreszeiten bei der jüngsten der famosen „Schlossnächte“ draußen vor der Ludwiggalerie komplett. Präsentierte dort doch das Literaturhaus Oberhausen eine Lesung der österreichischen, freilich in Recklinghausen lebenden Schauspielerin Christine Sommer, die mit musikalischer Unterstützung des Gitarristen Udo Herbst ausgewählte Stories des im Alter von 45 Jahren zum Literaten mutierten Strafverteidigers Ferdinand von Schirach vorstellte.
Und dies bei frühlingshaftem Wetter, weshalb man den Trausaal im Kleinen Schloss zwar ständig im Blick hatte, aber als Ausweichquartier nicht benötigte. Angesichts der sprechenden Dekoration über der Tür musste ich da doch an meinen alten Griechischlehrer denken, der gerne befand: „Lieber zwei Ringe unter den Augen als einen am Finger.“ Er wusste wohl, dass auf dem Standesamt schon so manches Elend seinen Ausgang nahm. Etwa die Geschichte von „Fähner“, einem unauffälligen praktischen Arzt in Rottweil. >>> Auch interessant: Aus Oberhausens Burgfestspielen werden 26 Schlossnächte
Onkel beeinflusst Ferdinand von Schirach
Doch vor dessen gutbürgerlichem Ehedrama stellte Christine Sommer zunächst von Schirachs Erinnerungen an seinen Onkel, einen Richter, der ihn lehrte: „Die meisten Dinge sind kompliziert und mit der Schuld ist das so’ne Sache …“ Ein Diktum, das sich leitmotivisch durch den ebenso spannungsreichen wie unterhaltsamen Abend zog und die rechtsphilosophische Problematik der von Schirach’schen Erzähl-Trilogie „Verbrechen“, „Schuld“ und „Strafe“ wenn nicht auf den Punkt brachte, so doch ziemlich gut anklingen ließ.
„Über Fähners Leben hätte es eigentlich nichts zu erzählen gegeben. Bis auf die Sache mit Ingrid.“ Denn die erweist sich bald nach der Eheschließung als tyrannisches Monster, was der gutmütige Doktor über Jahrzehnte klanglos erträgt. Auch Dank seines liebevoll gepflegten Gartens voller Stauden und Obstbäume. Bis Fähner, da ist er schon 72, schließlich der Kragen platzt: Er lockt Ingrid in der Keller, tötet und zerstückelt sie und stellt sich anschließend der Polizei. Sein Verteidiger erreicht eine Strafverbüßung im offenen Vollzug und erhält dafür eine Kiste mit zehn roten Äpfeln: „Sie sind gut in diesem Jahr“.
Schlossnächte: Udo Herbst sorgt für die passende Begleitung
Zynisch oder passend, dass Sommer und Herbst danach Charlie Chaplins berühmten Song „Smile“ kredenzten – nun, die meisten Dinge sind kompliziert. Und die Balance zwischen Recht und Gerechtigkeit oftmals fragil, wie die aus dem Leben stammenden, von Ferdinand von Schirach sprachlich elegant erzählten Geschichten zeigen. Grausig etwa in „Anatomie“ die detailliert geschilderten Sado-Fantasien eines jungen Mannes, der sich in seinem Auto genüsslich ausmalt, wie er den Körper einer Frau aufschneiden wird. Als er in Gedanken an sein Vorhaben aus dem Auto aussteigt, wird er überfahren und stirbt. Der Fahrer erhält eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Es folgte „God Bless the Child“, schön interpretiert von Udo Herbst, was soll man da noch sagen.
Tragisch dagegen die Geschichte von Nina und ihrem Freund, die sich nach einem tödlichen Unfall ein bürgerliches Leben aufbauen, bis 19 Jahre später eine DNA-Analyse ihre Tatbeteiligung nachweist. Ninas Freund erschießt daraufhin erst sie und dann sich. Von Schirachs Kommentar: Ich kam zu spät, sie hatten schon alles erzählt, sonst wäre der Unfall glaubhaft zu machen gewesen. Der lehrreichste Moment dieses bewegenden Leseabends, denn merke: Keine Aussage ohne Rechtsanwalt!
Brillante Charakteranalyse von Schily, Ströbele und Mahler
Amüsant, dass wenig später eine brillante Charakter-Analyse der drei Anwälte Otto Schily, Christian Ströbele und Horst Mahler folgte, die eindrucksvoll zeigte, warum Ferdinand von Schirach wahrhaft lesenswert ist – fragen Sie Ihren Buchhändler oder Bibliothekar! Und achten Sie auf den nächsten Termin von Christine Sommer mit Udo Herbst, die ihre bejubelte Lesung mit dem Fifties-Hit „Boulevard of Broken Dreams“ bittersüß beendete.