Oberhausen. Ludwig Wegner reagiert abweisend, als sein Sohn einen Besuch im alten Luftschutzbunker vorschlägt. Erst 22 Jahre später begreift der Sohn, warum.

Es war dieser eine Moment im Leben, der etwas veränderte: Thomas Wegner, den alle nur Tom nennen, war kurz nach der Eröffnung des Bunkermuseums 2001 auf einem Spaziergang mit seinen Eltern im Knappenviertel. „Sollen wir da mal rein?“, fragte der damals 36-Jährige seinen Vater – und zeigte auf das Schild am Eingang. Was folgte, war ein emotionaler Ausbruch seines Vaters Ludwig, der Tom Wegner bis heute bewegt: „Ich bin doch nicht bekloppt – da habe ich schon als Kind drin gesessen und Todesangst gehabt!“

Eng, duster und unbehaglich ist es auch heute noch in Teilen des Knappenbunkers. Wie müssen sich erst die Kinder im Krieg gefühlt haben, als draußen die Bomben fielen?
Eng, duster und unbehaglich ist es auch heute noch in Teilen des Knappenbunkers. Wie müssen sich erst die Kinder im Krieg gefühlt haben, als draußen die Bomben fielen? © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Zum ersten Mal, so Tom Wegner heute, sei dieser große Mann damals klein, hilflos, verletzlich erschienen. Reden wollte sein Vater damals nicht über das Erlebte. Somit gab es keine Möglichkeit für den Sohn, den heftigen Gefühlsausbruch zu verstehen. Fast 80 Jahre nach Kriegsende zeichnen wir die Geschichte von damals nach, versuchen zu begreifen, was Ludwig Wegner damals erleiden musste. Wir besuchen den Knappenbunker, gemeinsam mit Tom Wegner und Clemens Heinrichs, Leiter der Oberhausener Gedenkhalle und somit auch des Knappenbunkers, der heute ein Museum ist.

Kriegskinder schweigen über die schrecklichen Erinnerungen

Ludwig Wegner wurde 1936 geboren, war zum Kriegsende 1945 also neun Jahre alt. Sein Schweigen nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten war typisch für viele Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erleben mussten und nie über ihre Erfahrungen, ihre Traumata, reden konnten. Nicht mit Freunden, nicht mit der Familie. 2008 ist Ludwig Wegner verstorben – ohne seine schrecklichen Erinnerungen mit jemandem geteilt zu haben. Heute begibt sich Tom Wegner, Jahrgang 1965, auf Spurensuche und möchte erfahren, wie es seinem Vater damals im Bunker erging.

So sah Oberhausen kurz nach einem Bombenangriff 1943 aus. Das Bild zeigt zerstörte Wohnhäuser an der Alstadener Straße. Die Gedenkhalle stellt das Bild zur Verfügung, es entstammt dem Fotoalbum „Schadenstellen im LS-Ort [Luftschutzort] Oberhausen/Rhld. Mit Mülheim a.d. Ruhr“.
So sah Oberhausen kurz nach einem Bombenangriff 1943 aus. Das Bild zeigt zerstörte Wohnhäuser an der Alstadener Straße. Die Gedenkhalle stellt das Bild zur Verfügung, es entstammt dem Fotoalbum „Schadenstellen im LS-Ort [Luftschutzort] Oberhausen/Rhld. Mit Mülheim a.d. Ruhr“. © Gedenkhalle Oberhausen

„Heimatfront. Vom Blitzkrieg in Europa zum Luftkrieg an der Ruhr“ heißt die Ausstellung des Bunkermuseums und zeigt beispielhaft das zerstörerische Wüten eines Luftkrieges mit Bombenhagel in Warschau, Rotterdam, London, Coventry, Belgrad, Stalingrad, Antwerpen und eben Oberhausen. Die Stadt war wie viele andere Ruhrgebietsstädte ein kriegswichtiges Ziel und erlebte insgesamt 161 Luftangriffe.

Kinder saßen im Bunker während draußen die Bomben fielen

Diese nüchternen Fakten sind Teil der Ausstellung, doch für Tom Wegner hochemotional. Das ist es, was sein Vater erlebte: „Ich habe meinen Vater als groß und stark in Erinnerung. Nun stehe ich in diesem Bunker und stelle mir vor, wie er als kleines Kind total verängstigt genau hier saß und hörte, wie draußen die Bomben fielen.“

Die Luftangriffe auf Oberhausen begannen am 11. Mai 1940, der Knappenbunker wurde Anfang 1942 fertiggestellt. Die Familie Wegner wohnte damals an der Knappenstraße 75, keine 150 Meter entfernt: „In dieser Zeit“, so Tom Wegner, „war mein Vater als Fünf-/ Sechsjähriger immer wieder hier.“ Ein typisches Kriegskind, in Todesangst, konfrontiert mit Gewalt und Zerstörung. Im Sommer 1943 verließ der Junge Oberhausen, per „Kinderlandverschickung“ der Nazis ging es nach Bärwalde in der Oberlausitz.

Tom Wegner (links) und Clemens Heinrichs schauen sich historische Bilder in den engen Gängen des Bunkermuseums an.
Tom Wegner (links) und Clemens Heinrichs schauen sich historische Bilder in den engen Gängen des Bunkermuseums an. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Doch er erlebte wohl noch, wie 1943 eine Bombe in ein Seitenteil des Bunkers einschlug. Augenzeugen berichteten später, dass das ganze Gebäude wackelte, erzählt Clemens Heinrichs. Man stelle sich die Menschen darin vor, hinter meterdickem Stahlbeton, der laut Heinrichs, einen direkten Treffer wohl nicht überstanden hätte. Wäre die Bombe nur wenige Meter weiter in der Mitte des Bunkers eingeschlagen, hätte wohl niemand überlebt.

Am 27. April 1943 gab es einen der schwersten Luftangriffe auf Oberhausen. Sehr wahrscheinlich verbrachte Ludwig auch diesen Tag im Bunker. Mit Sicherheit ist dies, sehr zum Bedauern von Tom Wegner, aber leider nicht mehr zu rekonstruieren. „Es gibt keine Beleglisten oder ähnliches,“ sagt Clemens Heinrichs, obwohl die Geschichte und die Funktionsweise des Bunkers in der 2021 überarbeiteten Dauerausstellung gut dokumentiert und für die Besucher nachvollziehbar gemacht wird.

Hinten im Bild zu erkennen: der damalige Luftschutzbunker im Knappenviertel. Das Bild stammt aus einem privaten Nachlass, der der Gedenkhalle überlassen wurde.
Hinten im Bild zu erkennen: der damalige Luftschutzbunker im Knappenviertel. Das Bild stammt aus einem privaten Nachlass, der der Gedenkhalle überlassen wurde. © Gedenkhalle Oberhausen

Über drei Etagen standen damals 767 Betten, verteilt auf 90 Räume. 2300 Menschen suchten bei Bombenangriffen hier Schutz. Interessierte können heute nachlesen, wie ein Bunkerwart damals den Zutritt streng kontrollierte, wie die etwa sieben Quadratmeter großen Raumzellen mit zwei Dreifach-Stockbetten ausgestattet waren und wie dramatisch die Auswirkungen des Luftkriegs auf Oberhausen waren. Beim Blick auf die Zahlen wundert es kaum, dass auch heute noch, fast 80 Jahre nach Kriegsende, noch Blindgänger in Oberhausen gefunden werden: Zu Kriegszeiten fielen mehr als 400.000 Bomben auf die Stadt.

Das alles habe sein Vater erlebt, so Tom Wegner, der sich gut in die Gefühlswelt seines damals sechsjährigen Vaters hineinversetzen kann, wie er meint. Nach seinem Studium an der Fachhochschule Dortmund wurde der Sohn des Kriegskinds Kameramann beim WDR. Er erlebte zwar keine Bombenangriffe, war aber in Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Irak und Libyen. Er wisse, was Krieg mit Menschen macht, und genau deshalb beendet er seinen Besuch im Bunker auch sehr emotional. „Ich bin der Kindheit meines Vaters, der nie über diese Erlebnisse redete, ein ganzes Stück näher gekommen“, sagt er sichtlich bewegt.