Oberhausen. In Oberhausen hat das Bistum Essen Details der jüngsten Studie zu sexuellen Übergriffen von Pfarrern vorgestellt – und Gründe analysiert.
Der Oberhausener Stadtdechant André Müller ist in seinen Gemeinden bekannt dafür, eine bodenständig klare Sprache zu pflegen. Auch an diesem Abend mit dem schweren Thema „Sexualisierte Gewalt im Bistum Essen“ redet der Propst im Saal des Katholischen Stadthauses vor 50 Zuhörern nicht lange drumherum. „Es hat ein systematisches Versagen in der Kirche gegeben.“ Man habe eine Verantwortungsdiffusion erlebt, man habe Täter geschützt und nicht die Sicht der Opfer eingenommen. „Uns wird das Thema in den nächsten Jahren noch lange verfolgen.“
In diesen Tagen ziehen Verantwortliche des Bistums Essen von Stadt zu Stadt im Ruhrgebiet, um den Gemeinden die Ergebnisse der jüngsten Studie zu Missbrauchsfällen durch das „Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP)“ direkt vorzustellen. Denn die Sozialwissenschaftler um die Psychologin Helga Dill sollten im Auftrag des Bistums analytisch klären, wie es zu diesem gewaltigen Systemversagen der katholischen Kirche gekommen ist – und wie man in Zukunft verhindert, dass sexuelle Gewaltübergriffe geschehen und Straftaten von Priestern vertuscht werden. Gemeinde für Gemeinde soll nicht nur zurückblicken, sondern aktive Präventionsarbeit leisten.
Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck: Ein Skandal ähnlich groß wie der Ablasshandel
Denn die zahlreichen nachgewiesenen Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch angesehene Priester hat das Vertrauen in die katholische Kirche so massiv erschüttert, dass Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck schon vor zwei Jahren davon sprach, dass dieser „Skandal eine ähnliche Rolle spielen könnte wie der Ablassskandal, der im Hochmittelalter die Reformation ausgelöst hat“. Seit Gründung des Bistums Essen vor 65 Jahren sind über 420 Missbrauchs- und Verdachtsfälle mit über 200 Beschuldigten bekannt geworden, darunter 129 Geistliche.
Die Analyse der Fachleute ist seit Mitte Februar 2023 bekannt, als Bischof Overbeck die über zwei Jahre erstellte Studie öffentlich vorstellte. Die Wissenschaftler haben dafür nicht nur Akten gewälzt, sondern 68 Interviews und Gruppendiskussionen mit 85 Teilnehmern geführt. Das Fazit von Overbeck: „Es hat in der Vergangenheit in unserer Bistumsverwaltung massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung gegeben.“
Die Methode, mit sexuell übergriffigen Priestern umzugehen, ähnelt sich in vielen Fällen: Den Opfern wurde nicht geglaubt, zumindest hat man sich nicht weiter um sie gekümmert; die Täter wurden einfach in die nächste Gemeinde versetzt – ohne Therapie, ohne Intensiv-Betreuung. Die Gemeinden wurden über die Vorfälle nicht informiert. Die Priester konnten sich dort ungehindert neue Kinder und Jugendliche suchen, um sie sexuell zu bedrängen und zu missbrauchen. Einzelne innerkirchlich angeordnete Verbote für die Priester, keine Jugendarbeit mehr zu machen, wurden nicht kontrolliert.
Wolf: Sexualisierte Gewalt führt zu einen Missbrauchsstrudel
„Ich habe mir das Vorgehen der Täter nicht so perfide vorgestellt“, sagt Judith Wolf, Ressortleiterin Kulturentwicklung im Generalvikariat des Bistums, nach Lesen der über 420 Seiten langen Studie, die recht explizit die Gewalttaten der Priester gegen diejenigen schildert, die sie eigentlich schützen und gut betreuen sollten. Die Studie räume damit auf, dass niemand in den Gemeinden etwas gewusst habe. Anhand von sechs exemplarisch und sehr ausführlich dargestellten Täterbiografien kann man erkennen, dass „viele etwas davon wussten, es wurde getuschelt“. Wolf: „Sexualisierte Gewalt führt zu einem Missbrauchsstrudel, in dem nicht nur Täter und Opfer involviert waren, sondern ganze Familien und Gemeinden. Wie konnte es sein, dass so viele Menschen Wissende waren, aber nicht gehandelt haben?“
Antworten gibt die Studie durchaus: Es herrschte ein Sprechverbot, man konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser Priester so etwas macht, man glaubte Opfern nicht, grenzte diese sogar aus, es kam zu regelrechten Spaltungen von betroffenen Gemeinden – auch in einem Oberhausener Fall. „Es handelt sich oft um Pfarrer, die hoch angesehen waren, die eine Super-Jugendarbeit machten. Sie waren charismatische Persönlichkeiten und gute Redner. Sie hatten regelrechte Fans.“
Die Studie räumt mit dem lange von der Kirche gepflegten Mythos auf, hier handele es sich um eine Reihe von Einzelfällen. Die Wissenschaftler sehen viele begünstigende Faktoren in der katholischen Kirche: Das große Machtgefälle zwischen Priestern und Gläubigen, die Ausbildung junger Männer in einer Art Männerbund, denen „als Auserwählte alles nachgetragen wird“ (Wolf) – die Männer-Netzwerke schützen sich auch später selbst. Als ein übergriffiger Priester ausnahmsweise mal vor Gericht landete, gingen Verantwortliche im Bistum davon aus, dass ein mildes Urteil gefällt wird – der Richter sei katholisch und schließlich in einer katholischen Organisation tätig. Man kennt sich, man schützt sich.
Steht das Bistum Essen bei der Prävention von sexualisierter Gewalt noch am Anfang?
Nie wieder soll es so weit kommen, meint das Bistum heute. Allerdings: „Der Umgang mit Tätern ist zwar konsequenter geworden, doch wir stehen mit vielen anderen Themenbereichen noch am Anfang“, urteilt Judith Wolf über die Situation im Bistum. „Wir müssen das unangenehme Thema besprechbar machen, wir benötigen ein klares Konzept für Gemeinden, in denen ein Fall sexualisierter Gewalt auftaucht, wir müssen die Opfer in den Blick nehmen, wir müssen sie deutlich besser entschädigen, wir müssen Präventionskonzepte erarbeiten, wir müssen Kinder ermutigen, sich zu äußern.“ Ein Anfang ist in einem Punkt gemacht: Seit Januar 2023 werden Personalakten von allen Kirchenmitarbeitern gemeinsam und transparent nach gleichen Kriterien geführt, die Priester haben keinen Sonderstatus mehr.
Doch dass in der Praxis Prävention auf Probleme stößt, schildern einige Zuhörer deutlich. „Wir müssen an die Machtstrukturen ran, wo immer noch der Pfarrer das letzte Sagen hat und viele Erwachsene einen Bückling machen.“ Und: „Muss wirklich jeder Erwachsene, der mal für zwei Stunden mit den Sternsingern von Haus zu Haus geht, eine Schulung zu Grenzüberschreitungen mitmachen?“
Stadtdechant: Priester in der Ausbildung haben Angst, mit Kindern schwimmen zu gehen
Stadtdechant André Müller erlebt jedenfalls auch ein übertriebenes Präventionsverhalten bei angehenden Priestern, das der sozial-pädagogischen Aufgabe der Kirche nicht gerade förderlich ist. „Die jungen Männer, die ich ausbilde, sagen mir jetzt, ich gehe doch nicht mehr mit Jungen und Mädchen schwimmen. Die haben richtig Angst, dass ihnen danach irgendetwas vorgeworfen wird, schließlich wird da im Wasser gedöppt und gerauft.“ Müller hält von einer Prävention durch Vermeidung von Kontakten zu jungen Menschen nichts. „Ich ermutige sie, mit Kindern schwimmen zu gehen – aber zusammen mit anderen und sie sollten sich nicht mit den Kindern in einer Sammel-Umkleide umziehen.“