Oberhausen. Das neue Buch der Gedenkhalle Oberhausen zeichnet das Schicksal jüdischer Familien nach. Um ihr Verschwinden ranken sich bis heute Legenden.
Dieses eine Foto ging Claudia Stein und Monika Elm nicht mehr aus dem Kopf. Es zeigt Alice Wolf nach der Wahl des Schützenkönigs der Bürger-Schützen-Gilde Holten 1308 am 5. August 1932, Arm in Arm mit Vertretern der Stadtspitze in Oberhausen-Holten. Nur wenige Jahre später ist die Familie aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Was wurde aus ihr? Auch dies ist jetzt in der vierten Publikation der Gedenkhalle „Verlorene Heimat – Die Jüdische Gemeinde Holten 1504 – 1941“ zu finden.
Das Thema lag nahe, war die Gedenkhalle Oberhausen doch 2020 zu einer Ortsbegehung der ehemaligen Synagoge in Holten gebeten worden. Das leerstehende Gebäude war soeben von der Stadt erworben worden. In den 1930er-Jahren zu einem Wohnhaus umgebaut, sind heute zwar keine Spuren der ursprünglichen Nutzung mehr vorhanden. Doch das Wissen darum nagte an Gedenkhallen-Mitarbeiterin Claudia Stein. „Wer waren die Erbauer der Synagoge?“, „Seit wann und wie lebten sie in Holten?“, waren nur zwei Fragen, auf die sie unbedingt Antworten finden wollte. Wer in der Holtener Stadtgeschichte gräbt, kommt an Heimatforscherin Monika Elm nicht vorbei. Die beiden Frauen trafen sich und waren sich einig: „Hier sind wir auf Geschichten gestoßen, die wir aufschreiben müssen!“
Im Einzelnen sind dies die Lebenswege von sieben jüdischen Familien, „die das Vermögen und den Wunsch hatten, in Oberhausen einen religiösen Mittelpunkt für ihre kleine jüdische Gemeinde zu schaffen“. Die Familie Wolf war eine davon.
Im 18. Jahrhundert nach Oberhausen-Holten gezogen
Die Familie Wolf war ursprünglich im 18. Jahrhundert nach Holten gezogen. Isaac Wolf lebte mit seiner Familie von einer kleinen Metzgerei, später kamen ein Viehhandel und ein Kaufmannsgeschäft dazu. Sohn Simon Wolf wurde 1850 in Holten geboren. Simon stieg später in den Viehhandel und das Geschäft seines Vaters ein. „Die Familie war in der Stadtgesellschaft sehr angesehen“, erfuhr Claudia Stein bei ihren Recherchen. Simon Wolf war Mitglied der Bürgerschützengilde Holten, im Gemeinderat aktiv und als Repräsentant der Synagogengemeinde geachtet. Er hatte 1870 bis 1871 im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft. „Man kann es nicht anders sagen, er war ein deutscher Patriot jüdischen Glaubens erster Güte.“
Simon war mit Bertha Archenholz (geb. 1841) verheiratet. Sie bekamen zwei Kinder. Tochter Sophie verstarb noch im Säuglingsalter, Sohn Sally (geb. 1881) sollte später der Einzige sein, der den Holocaust überlebte. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Simon Johanna Cappel (geb. 1861). Das Paar bekam zwei Söhne, Alfred (geb. 1899) und Julius (geb. 1897). „Die Familie lebte im eigenen Haus mit Stall und Hof an der Wasserstraße 36 in Oberhausen“, fanden die beiden Autorinnen heraus. Alfred studierte Medizin und war in Hamborn als Augenarzt tätig. Julius trat in die Fußstapfen seines Vaters und übernahm – nach seiner Hochzeit mit Alice Amalie Haas (geb. 1899) – das Geschäft des Vaters. „Auch Julius Wolf war aktiv in der Bürgerschützengilde sowie passives Mitglied im Männergesangsverein Amicitia“, berichtet Claudia Stein. So verwundert es nicht, dass seine Frau Alice nach der Wahl des Schützenkönigs noch im Sommer 1932 feierlich an Seite der Würdenträger aus Holten abgelichtet wurde.
Als die Nazis an die Macht kamen, änderte sich alles
Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde alles anders. Die Familie wurde aus der Gesellschaft ausgegrenzt und schließlich sogar ganz aus ihrer Heimat Holten vertrieben. „Julius Wolf musste das Geschäft schließen und sein Vater Simon wurde genötigt, die Synagoge und sein Haus an der Wasserstraße für einen viel zu geringen Preis zu verkaufen“, erzählt Monika Elm. Simon und Johanna zogen zunächst in ein jüdisches Altersheim nach Köln. Dort starb Simon im Alter von fast 89 Jahren. „Doch seine Frau Johanna wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert.“ Dort sei sie am 19. Oktober 1942 im Beisein ihres Sohnes Alfred verstorben, der ebenfalls mit seiner Frau Käthe deportiert worden war. „Alfred und Käthe wurden 1944 in Auschwitz ermordet.“ Julius zog nach dem Verlust des Hauses mit seiner Familie ebenfalls nach Köln und arbeitete als Hausmeister im jüdischen Waisenhaus. „Im Juli 1942 wurden Julius und Alice mit ihren Kindern Kurt und Hannelore nach Maly Trostenec deportiert und dort vier Tage später ermordet.“ Simon Wolfs Sohn Sally aber gelang die Flucht nach Südafrika. Sallys Tochter Bertl Reis wanderte in die USA aus. Sein Sohn Arthur blieb in Südafrika.
Die Stadtgesellschaft im Fokus
„Verlorene Heimat – Die Jüdische Gemeinde Holten 1504 – 1941“ ist im Verlag Karl Maria Laufen als vierter Band der Studien der Gedenkhalle Oberhausen erschienen (ISBN 978-3-87468-488-0).
Geschildert werden die Lebenswege der jüdischen Familien Aaron, Andries, Eggener, Gumpertz, Heymann, Plaat, Rosenbaum, Spier und Wolf. Das Buch kostet 18 Euro.
„Nach dem Krieg hatte Sally Wolf noch einmal Kontakt zu der Landwirtsfamilie aufgenommen, die am 6. März 1939 das Haus seines Vaters an der Wasserstraße 36 gekauft hatte“, erinnert sich Claudia Stein. Er habe sie gefragt, weshalb sie die Not der Eltern so ausgenutzt hätten. „Und er war sprachlos über die Lügen, die er dann aufgetischt bekam.“ Die Wolfs hätten doch selbst unbedingt verkaufen wollen, weil sie lieber nach Köln hätten umziehen wollen, war nur eine davon. Weitere folgten: Später sei die Familie Wolf aber wieder nach Oberhausen zurückgekehrt, alle Familienmitglieder seien in Holten auf dem jüdischen Friedhof beerdigt worden.
„Es sind auch diese Legenden, mit denen Menschen ihr eigenes Verhalten schönfärben, mit denen wir jetzt durch unser Buch aufräumen wollen“, betont Monika Elm. Claudia Stein ergänzt: „Ja, es gibt tatsächlich Familienmitglieder, die auf diesem Friedhof liegen.“ Aber dies seien Henriette Wolf, geb. Braunstein, die Mutter von Simon Wolf, und Simon Wolfs kleine Tochter Sophie, die kurz nach der Geburt verstorben war.“ Nur diese beiden hätten dort ihre letzte Ruhestätte gefunden. Der Künstler Gunter Demnig hatte im März 2022 an der Wasserstraße in Holten zur Erinnerung an die Familie Wolf einen Stolperstein verlegt.