Der Deutsch-Französische Krieg veränderte vor 150 Jahren die Landkarte Europas stark. Warum die Ruhr-Uni Bochum das jetzt in Echtzeit twittert.
Wer das Herzbrechende, das Grauenhafte des Krieges sehen will, der komme auf ein frisches Schlachtfeld oder in die Notlazarette in Scheunen und Schuppen gleich nach der Schlacht! (…) Alle Zeitungsberichte sind nichts gegen die Wirklichkeit. Johann Zeitz, 16. August 1870.
„Das ist eine blöde Geschichte von lang nachwirkenden schädlichen Folgen“, schreibt Golo Mann über den Beginn des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71. Der große Historiker hatte es beim Verfassen seines Standardwerks „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ vor über 60 Jahren wohl schon geahnt, dass die „schädlichen Folgen“ die „blöde Geschichte“ auf Dauer in den Schatten stellen würden.
Und so ist es denn auch gekommen: Der Deutsch-Französische Krieg ist heute kein Thema mehr. ‘70/’71 – war da was? Nur Erinnerungsfetzen aus dem Schulunterricht haften noch im Gedächtnis: Emser Depesche, Sedanstag, Versailler Spiegelsaal, Bismarck. „Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Erste und der Zweite Weltkrieg, haben die Erinnerung an die Ereignisse vor 150 Jahren verblassen lassen“, sagt der Bochumer Historiker Christian Bunnenberg, der mit Studierenden der Ruhr-Universität und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg die weltgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse von vor 150 Jahren derzeit in einem Twitter-Projekt aufarbeitet (siehe Text unten).
Vieles ist aus der kollektiven Erinnerung verschwunden
Dabei ist Schlimmes passiert in diesem Krieg, der im Kern kaum länger als ein halbes Jahr dauerte und doch Hunderttausende Opfer forderte. Der harte Winterfeldzug, bei dem deutsche Armeen tief nach Frankreich vorstießen; die Aufstellung französischer Massenheere, die sich vergeblich der gut organisierten preußisch-deutschen Militärmacht entgegenwarfen, die brutalen Partisanenkämpfe französischer Freikorps, der sogenannten Franktireurs; die rücksichtslose Beschießung von Paris mit insgesamt 12.000 Granaten aus in Essen gefertigten Krupp-Kanonen; der für die Pariser Bevölkerung demütigende Triumphzug der siegreichen deutschen Truppen über die Pariser Prachtstraße Champs-Elyssee am 1. März 1871 – all das scheint weitgehend aus der kollektiven Erinnerung diesseits und jenseits des Rheins verschwunden zu sein.
Der Krieg liegt 1870 in der Luft
1870 liegt der Krieg förmlich in der Luft. Historiker streiten sich bis heute darüber, welche Seite die größere Verantwortung trägt, Frankreich oder Preußen-Deutschland. Die Ereignisse rund um die berühmte „Emser Depesche“, aus heutiger Sicht eine Banalität, sind jedenfalls nur der Funke, der das Pulverfass zur Explosion bringt. Beide Länder sind hochgerüstet, beiden geht es um Dominanz auf dem Kontinent. Der französische Kaiser Napoleon III. will mit Macht verhindern, dass ein Verwandter des preußischen Königs Wilhelms I. den spanischen Thron besteigt. Doch Diplomatie ist die Sache des Franzosen-Kaisers nicht. Seine Forderungen sind überdreht. Wilhelm informiert seinen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck über die ergebnislosen Gespräche mit dem französischen Botschafter im Kurort Bad Ems. Die Depesche ist intern. Bismarck macht daraus eine Pressemitteilung. Er verkürzt den Wortlaut des Telegramms derart, dass er auf die Franzosen wie eine Provokation wirken muss.
Zur Kriegsvorbereitung werden im Pariser Park Bois de Boulogne Bäume gefällt. Der Schriftsteller Edmond Goncourt macht die Preußen für das Morden der Natur verantwortlich. Er hasst sie aus tiefstem Herzen.
Bismarcks Kalkül geht auf. Am 19. Juli 1870 erklärt Frankreich Preußen den Krieg. Am selben Tag kommt es zu ersten Scharmützeln im Grenzgebiet an Rhein, Saar und Mosel. Dem württembergischen Kavalleriehauptmann und späteren Luftschiffpionier Graf Zeppelin gelingt ein damals berühmt gewordenes Husarenstück, als er sich als einziger seiner Einheit aus französischer Umklammerung rettet. Am 2. August besetzen drei französische Divisionen kurzzeitig Saarbrücken. Die Franzosen gelten als stärkste Militärmacht des Kontinents. Ein Vorstoß bis nach Mainz gilt als gesetzt. Es kommt anders.
Am 2. September fällt Sedan
In Weißenburg, Wörth und Spichern schlagen die durch süddeutsche Truppen verstärkten preußischen Armeen unter Generalstabschef Helmut Graf von Moltke die Franzosen auf eigenem Gebiet in die Flucht. Die drei Ortschaften im Elsass und in Lothringen liegen in Schutt und Asche. Kein französischer Soldat wird seinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen, es sei denn als Kriegsgefangener. „Frankreich war schwach, Preußen stark. Die preußischen Heerführer wussten das; die Franzosen wussten es nicht. Drei Wochen nach Kriegsausbruch wusste es jedermann“, schreibt Golo Mann. Am 2. September fällt Sedan, die alte Festungsstadt am Südrande der Ardennen. Die Franzosen sind geschlagen. Kaiser Napoleon III. gerät in deutsche Gefangenschaft. Der Krieg ist aus, denken viele. Ist er aber nicht.
Helmuth von Moltke telegrafiert an den preußischen Prinzen Friedrich Karl über den Sieg bei Sedan: Über 20.000 Gefangene, Napoleon III. hat seinen Degen angeboten, Kapitulationsverhandlungen im Gange.
Der Krieg geht weiter, weil die Franzosen Kaiser und Kaiserin zum Teufel jagen und die Republik ausrufen. „Der Kabinettskrieg entwickelte sich zum Volkskrieg“, schreibt der Potsdamer Militärhistoriker Michael Epkenhans. Die neue republikanische Regierung in Paris ruft die Bürger zu den Waffen. Die folgen dem Aufruf begeistert, geht es doch darum, die Ehre des Landes zu retten. Kriegsminister Leon Gambetta fordert einen „Kampf bis aufs Messer“. Und Frankreichs Nationaldichter Victor Hugo schwärmt: „Bürger, Paris wird triumphieren, weil es die menschliche Idee und den Volkswillen repräsentiert.“ Paris triumphiert nicht. Es hungert. Am Ende der monatelangen Belagerung schlachten die Eingeschlossenen die Tiere des Pariser Zoos.
Kaiserin Eugenie flieht heimlich, in einfacher Garderobe, versteckt in einer Kutsche, aus ihrem Palast. Zum Kofferpacken ist keine Zeit mehr. Hunderte von Kleidern und Schmuckstücken muss sie zurücklassen.
Vor den Toren von Paris, im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, vollzieht sich unterdessen ein ganz anderer Akt. Die deutschen Fürsten rufen den preußischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser aus. Auch Bayerns König Ludwig II. macht mit, ungern, aber aus „Gründen politischer Klugheit“. Bismarck, der die Gründung Deutschlands als modernen Nationalstaat eingefädelt hat, räumt dem Bayernkönig dafür Sonderrechte bei Steuern, Post und Eisenbahn ein.
Die Reichsgründung ist hochwillkommen
In weiten Teilen der deutschen Bevölkerung ist die Reichsgründung hochwillkommen, auch wenn sie „von oben“ kommt. „Der Sieg über Frankreich verändert das Kräfteverhältnis in Europa“, schreibt Historiker Epkenhans. Im Herzen Europas entsteht eine neue Großmacht. Bismarck versteht den ganzen Krieg von Anfang an als Mittel zum Zweck der deutschen Einigung. Den besiegten Franzosen will der künftige Reichskanzler aber nicht zu viel aufbürden. Der von den preußischen Militärs geforderten Abtretung Elsass-Lothringens an das neue Deutsche Reich stimmt er nur zögerlich zu.
Ernst Leube aus Ludwigsburg in Württemberg ist das letzte lebende Kind seiner Eltern. Drei ältere Geschwister sind schon gestorben. Der junge Mann hat gerade sein Studium beendet, als er sich freiwillig zur Artillerie meldet. Die Eltern sind entsetzt.
Die Kampfhandlungen enden Anfang 1871. Paris kapituliert am 28. Januar. 40.000 deutsche Soldaten sind tot. Auf französischer Seite sterben mehr als dreimal so viel. Die Friedensverhandlungen ziehen sich bis ins Frühjahr. Am 10. Mai unterschreiben Bismarck und der französische Außenminister Favre in Frankfurt am Main den endgültigen Friedensvertrag. Die Bedingungen für Frankreich, sie sind hart. Das zweisprachige Elsass-Lothringen fällt als „Reichsland“ ans neue Deutsche Reich. Außerdem muss Frankreich fünf Milliarden Goldfranken an Entschädigung zahlen. Das Geld wird den deutschen Wirtschaftsboom der Gründerzeit befeuern. Deutsche Besatzungstruppen bleiben in Frankreich bis 1873.
Nährboden französischer Rache-Gelüste
Besonders der Gebietsverlust wird zum Nährboden französischer Rache-Gelüste. „Der Schmerz über ,Frankreichs verlorene Kinder‘ Elsass und Lothringen schürte den Revanche-Gedanken gegenüber den Deutschen. Das hat den Ersten Weltkrieg sicher nicht zwangsläufig herbeigeführt, dessen Ausbruch aber begünstigt“, sagt Christian Bunnenberg. Nach 1918 fällt Elsass-Lothringen wieder zurück an Frankreich.
1870, 1914, 1939, 1945: Europas Schicksalsjahre sind eng miteinander verknüpft, obgleich Golo Mann meint, der Deutsch-Französische Krieg verhalte sich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht so eindeutig wie 1914 zu 1939. Immerhin: Bei der Kaiser-Proklamation in Versailles ist ein junger Leutnant namens Paul von Hindenburg dabei. Als hochbetagter Reichspräsident wird er 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennen.
Es gibt auch glücklichere Jahre für Europa. 1963 ist so eins. Die Elysée-Verträge legen den Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft. Bis zum Ende ihrer Feindschaft haben beide Völker - von ‘70/’71 an gerechnet - fast 100 Jahre gebraucht.
Geschichte im Twitter-Takt: Ruhr-Universität geht mit „@Krieg7071“ neue Wege
Der Deutsch-französische Krieg von 1870/71 ist in der breiten Öffentlichkeit fast vergessen. Doch ein ungewöhnliches Geschichtsprojekt der Ruhr-Universität Bochum und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg lässt die Ereignisse vor 150 Jahren mit den Mitteln unserer Zeit auf spannende Weise wieder lebendig werden. In dem Twitter-Projekt @Krieg7071 erzählen 30 Studierende beider Hochschulen die Ereignisse von 1870/71 mittels des Kurznachrichtendienstes nach: Tag für Tag und zeitgenau mit den damaligen Ereignissen.
„Wir berichten über den Krieg in Einzelschicksalen. Kaiser, Könige, Befehlshaber kommen ebenso zu Wort wie die einfachen Soldaten, die Krankenschwester, ein Pfarrer oder der Philosoph Friedrich Nietzsche, der den Krieg als junger Sanitäter erlebte“, sagt Christian Bunnenberg. Der Junior-Professor für Geschichtsdidaktik an der Ruhr-Universität leitet das Twitterprojekt gemeinsam mit dem Ludwigsburger Historiker Tobias Arand. Bisher sind bereits über 1600 Tweets unter dem Account @Krieg7071 erschienen. „Bis zum Ende des Projekts im Mai werden es gut 3000 sein“, so Bunnenberg.
Für die Studenten bestehe die Herausforderung, die historischen Quellen jeweils so zu gewichten, dass deren Kernaussage in einen Tweet mit maximal 280 Zeichen passe. Die neue Erzählform ermögliche es, die Ereignisse des Krieges aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in der zeitlichen Dimension mitzuerleben, so Bunnenberg.
Das Ganze kann man natürlich im Internet mitverfolgen. @Krieg7071 hat bereits über 2000 Follower, darunter Forscher, Geschichtsinteressierte und Museen aus aller Welt. Alle auf dieser Seite kursiv dargestellten Texte stammen aus dem Projekt.
Tiefer eintauchen
Michael Epkenhans, „Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871“, Reclam-Verlag, 2020.
Tobias Arand, „1870/71: die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen“, Osburg-Verlag, 2018.
Golo Mann, „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, Fischer-Taschenbuchverlag, 1992.
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