Oberhausen. Viele Oberhausener sind 2022 in finanzielle Not geraten. Mitglieder des Jugendparlaments haben mit ihrer Aktion gezeigt: Wir sehen euch.
Auch in diesem Jahr standen die Mitglieder des Oberhausener Jugendparlaments vor der Frage: Wer soll unsere Weihnachtsspende erhalten? Die demokratische Abstimmung ergab, dass die Tafel bedacht werden soll – allerdings nicht nur mit Geld, sondern auch mit dem vollen Körpereinsatz einiger Parlamentsmitglieder. Und so standen auch Konstantina, Elias, Johanna, Louis und Lisa in ihren Schulferien in der Tafelkirche an der Gustavstraße, sortierten erst Obst und Gemüse in Kisten und teilten es dann an die Bedürftigen aus. Eine Erfahrung, die viele unterschiedliche Gefühle in ihnen auslöste – und sie zum Nachdenken zwang.
Es ist Donnerstagnachmittag, 13.30 Uhr. „Heute rollen die Senioren an“, sagt Friedhelm Bever, Erster stellvertretender Vorsitzender der Oberhausener Tafel. Er hat recht, in der zig Meter langen Schlange vom Eingang der Kirche bis um die Ecke herum und hinter die Bushaltestelle an der Buschhausener Straße gibt es kaum einen Mann oder eine Frau ohne ein Gefährt. Viele harren hinter ihrem Rollator aus, andere ziehen einen „Hacken-Porsche“ hinter sich her, sogar ein Koffertrolley ist dabei. Wenn sie wieder hinausgehen, wird alles prall gefüllt sein. Aus den vielen bunten Plastiktaschen und -tüten, mit denen ein jeder zusätzlich bewaffnet ist, werden Baguettestangen herausragen und Tomaten purzeln, Wocheneinkauf eben. Genau so wie anderswo auch – und doch völlig anders.
Als Helfer bei der Tafel: „Erschreckend viele Menschen“
Im Kirchenraum ist alles vorbereitet für die Tafel-Kunden. Sie laufen, mit höflichem Abstand zueinander, die einzelnen Stationen ab und füllen in ihre Taschen, was sie auf den bereitgestellten Tabletts anlacht. Beginnend mit Fleisch und Wurst, über Joghurt, Quark, Käse, weiter zu Kartoffeln, Kohl, Paprika bis hin zu Äpfeln, Mangos, Clementinen. Jeder nimmt, was er mag. Es ist alles in den zwei Euro Gebühr für eine Zugangskarte enthalten.
Zum Abschluss landen alle bei Louis und Konstantina. Sie türmen Brötchen, Brot und Croissants vom Vortag appetitlich auf, legen jedes Mal noch ein Teilchen oder Kuchen dazu. Die Kunden nehmen reichlich. Wenn sie es denn noch unterbringen können: Die meisten müssen erst alles absetzen, die Backwaren hineintüfteln in ihr Gepäck und dann alles wieder schultern, stapeln oder vorsichtig schieben. „Dankeschön. Und einen guten Rutsch!“ Louis erwidert den Gruß, freundlich und routiniert. Er hat bereits am Vortag hier mitangepackt. „215 Menschen waren hier“, erzählt er, noch immer sichtlich beeindruckt. 215 – „erschreckend viele“ seien das gewesen. Damit hatten die 15- und 16-Jährigen nicht gerechnet. Er habe das irgendwie als „erdrückend“ empfunden, sagt Louis, dass so viele Leute Hilfe benötigen. Und dennoch: Nach drei Stunden an der Ausgabe, nachdem er zig Mal „Vielen Dank!“ gehört hatte, war er berauscht: „Ich fand’s mega.“
Die Verabschiedung am Ende des „Einkaufs“ ist einer der wenigen Wortfetzen, die durch den ziemlich frischen Kirchenraum hallen. In Winterjacken und Mänteln, mit Mützen und Schals, den Masken, die hier Pflicht sind, huschen die Kunden, die meisten von ihnen sind weiblich, von Tisch zu Tisch. Den Blick auf die Lebensmittel geheftet, nehmen sich rasch, was sie brauchen und gehen weiter. Es scheint, als wolle niemand die eingespielte Choreographie stören. Es warten schließlich noch so viele andere. Und dann ist da noch die Scham. Schnell wieder raus und nach Hause, so scheinen viele zu denken. Besonders jene wahrscheinlich, die in diesem Jahr als ganz neue Klientel hinzugekommen sind: ältere Menschen, die sich bisher noch aus eigener Kraft über Wasser halten konnten, denen Inflation und Energiekrise jedoch den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
Armut im Alter: Wenn die Rente einfach nicht mehr reicht
Monika Strunk ist eine davon. In diesem Jahr musste sie feststellen, dass sie mit dem Arbeitslosengeld einfach nicht mehr auskommt. Vor sechs Monaten, als sie 65 wurde, erhielt sie das begehrte Ticket für den Donnerstagnachmittag-Senioren-Einkauf bei der Tafel. „Am Anfang habe ich mich geschämt“, sagt sie, „mittlerweile nicht mehr“. Wie eine andere Dame, die hinter ihr in der Schlange steht. Sie ist 66 Jahre alt, hat lange Jahre als Verkäuferin gearbeitet. „Wir waren selbstständig und nach der Trennung habe ich festgestellt, dass mein Mann gar nicht für mich eingezahlt hatte.“ Die Rente reicht vorne und hinten nicht. Auch sie hat früher die Leute rund ums Tafelkirchengebäude warten sehen. „Da dachte ich immer: Oh, mein Gott. Jetzt stehe ich auch da.“
Beinahe geräuschlos geht die Lebensmittelausgabe weiter. Plopp machen die Äpfel, die Elias in kleine schwarze Eimer füllt und den Kunden vor den Corona-Sichtschutz stellt, der ihn und alle anderen Helfer merkwürdig klinisch von den Kundinnen und Kunden trennt. Den 15-Jährigen bringt sein Einsatz ins Grübeln. „Es ist nicht selbstverständlich, dass man Essen hat“, sagt er. „Es ist ein Privileg.“ Johanna will demnächst achtsamer mit Lebensmitteln umgehen, „vielleicht ein zweites Mal nachdenken, bevor man etwas wegwirft“ und Louis findet, man sollte „froh sein, dass es einem so gut geht, dass man nicht zur Tafel gehen muss.“ Sie alle stimmt die Armut der Menschen hier traurig, gleichzeitig gehen sie gestärkt aus ihrem Ausflug ins Ehrenamt hervor. Konstantina schwärmt von den strahlenden Augen, Lisa ist beeindruckt von den Freiwilligen, die seit drei Uhr in der Früh schon auf den Beinen sind. Vor allem ist es Dankbarkeit, die sie nach diesen paar Stunden Arbeit in der Tafelkirche mitnehmen.
Friedhelm Bever schaut zufrieden. Er kann jede Aufmerksamkeit für die Tafel gebrauchen. Solange weder politische Entscheider noch wirtschaftliche Macher etwas an der Situation für arme Menschen ändern; solange sich „alle darauf verlassen, dass die Ehrenamtler sich kümmern“, ist das notwendig. Dabei gehe es gar nicht primär um Geld. Es bräuchte Ideen, damit Menschen erst gar nicht bei ihnen landen. „Es ist entwürdigend, dass Bürger eines Staates Almosen entgegennehmen müssen. , sagt der 75-Jährige. Bis dahin brauchen sie dringend mehr Ehrenamtliche für ihr Team. Zum Abholen der Waren, zum Auspacken, Aussortieren und Austeilen. „Wir haben das soziale Gewissen verlernt. Hingucken; sehen, dass wir helfen müssen.“ Die Jugendparlamentarier haben dies getan. Es hat nicht den Gang der Welt verändert, aber ein kleines bisschen in jedem von ihnen. Und wer weiß, wofür dies in Zukunft gut sein wird.
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