Oberhausen. Die gestiegenen Preise bringen selbst Berufstätige in Not. Der Andrang an der Tafel in Oberhausen steigt ständig. Auch Ukrainerinnen stehen an.
Lebensmittel, Energiekosten, Inflation: Die Armutsspirale dreht sich immer schneller – und ist bereits in der Mittelschicht angekommen. Zum ersten Mal in ihrer fast 21-jährigen Geschichte erleben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tafel in Oberhausen, dass jetzt sogar Facharbeiter in der Schlange anstehen und um Nahrungsmittel bitten.
Hilfe können sie an der Ausgabestelle aber nicht erwarten. „Unsere Regelungen sind streng, die Sätze genau vorgeschrieben, wer auch nur fünf Euro darüber liegt, kann unser Angebot leider nicht nutzen“, bedauert Friedhelm Bever, stellvertretender Vorsitzender der Oberhausener Tafel. „Auch wenn es uns das Herz zerreißt.“
Die Folgen der Corona-Pandemie, vor allem aber des russischen Angriffskriegs in der Ukraine bringen immer mehr Oberhausenerinnen und Oberhausener in finanzielle Not. So deckte erst kürzlich der Jahresbericht 2021 der Schuldnerberatung des Diakonischen Werks auf: Geringverdiener müssen schon Kredite zur Finanzierung ihres normalen Lebensunterhalts aufnehmen. Besonders hart trifft es die, die eh kaum etwas haben. „Wenn man sich die Sozialsätze ansieht, hat man schnell errechnet, dass für Lebensmittel pro Kopf nur rund fünf Euro am Tag vorgesehen sind“, stellt Bever fest. „Ein Laib Brot aber kostet inzwischen doch schon 3,50 Euro.“ Die Kühlschränke in vielen Haushalten sind entsprechend leer.
Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer dringend gesucht
Der Arbeitstag der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer beginnt um 7.30 Uhr mit der Einteilung der Fahrerinnen und Fahrer. Diese holen dann mit den Fahrzeugen übrig gebliebene Lebensmittel aus rund 70 Geschäften und Bäckereien in Oberhausen ab.
Durch den enormen Andrang an der Ausgabestelle der Tafel ist die Arbeit von den rund 70 Ehrenamtlichen aber kaum noch zu stemmen. „Wir suchen deshalb dringend freiwillige Helferinnen und Helfer“, sagt Friedhelm Bever, stellvertretender Vorsitzender der Tafel. Handynummer: 0171 3615891.
Bereits durch die Corona-Pandemie war der Andrang an den Lebensmittelausgabestellen um rund 20 Prozent gestiegen. Rund 3700 Oberhausenerinnen und Oberhausener decken sich inzwischen pro Woche regelmäßig an der Gustavstraße 54 mit Nahrungsmitteln ein. Als Beleg für die Bedürftigkeit sind ein aktueller Renten- oder Leistungsbescheid mitzubringen. „Zu unseren Kunden gehören Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende – und seit einigen Jahren auch eine große Anzahl an geflüchteten Menschen“, sagt Bever.
Hilfe auch für 1200 ukrainische Flüchtlingsfamilien
Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs versorgt die Tafel zusätzlich noch einmal etwa 1200 bei der Stadt Oberhausen registrierte ukrainische Flüchtlingsfamilien. Dafür hat der gemeinnützige Verein jeweils den Dienstag ab 11 Uhr reserviert. Schon vor Beginn der Ausgabe warten über 400 Ukrainerinnen und Ukrainer, viele haben ihre kleinen Kinder mitgebracht. Die meisten sprechen kein Deutsch, doch das Wort „Schokolade“ scheint irgendwie international zu sein und die hungrigen Blicke der Kinder dazu wohl auch.
Am Eingang der Tafel kontrolliert Julia die Bescheide. Die Ukrainerin ist im März aus ihrer Heimat Irpin geflüchtet – und landete eher zufällig in Oberhausen. Es war ihre Rettung. Denn die beiden Vororte der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Irpin und Butscha, sollten zum Sinnbild für alle Gräueltaten werden, die russische Soldaten der Bevölkerung antun. Julia weiß: „Sie vergewaltigten auch in Irpin Frauen und entsorgten sie wie Müll.“ Als die 34-Jährige nach Oberhausen kam, war sie alleine. Durch andere Flüchtlinge erfuhr sie von der Tafel. „Ich holte mir selbst hier ein wenig Unterstützung.“ Sie blieb als Ehrenamtliche, um etwas zurückzugeben. So wie acht weitere Ukrainerinnen auch, die dort heute beim Sortieren der Lebensmittel helfen, vor allem aber dolmetschen.
Oft bis zu zehn Stunden im Einsatz
„Wir sind sehr froh über dieses Engagement“, sagt Bever. Denn hier, an der Ausgabestelle, sind die Schrecken des Krieges noch allgegenwärtig. „Viele Ukrainerinnen sind spürbar gestresst, sie haben große Angst um ihre Männer und alle Familienangehörigen, die in der Ukraine geblieben sind“, erzählt der 75-Jährige. „Und sie fühlen sich in Deutschland erst einmal sehr verloren“, ergänzt Julia und denkt dabei an ihre eigenen ersten Tage in der damals noch so fremden Stadt zurück. „Schokolade“, klingt es aus einem der Kinderwagen. Die Frauen in der Schlange lachen. Es sind die alltäglichen Dinge, die verbinden.
70 Geschäfte und Bäckereien in Oberhausen halten den Betrieb der Tafel aufrecht. Ohne ihre Lebensmittelspenden liefe nichts. 70 Ehrenamtliche holen die Waren ab, sortieren sie und bringen sie auch zu Menschen, die gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind, die Ausgabestelle selbst aufzusuchen. „Dabei unterstützt uns aber die Caritas“, sagt Bever dankbar. Acht bis zehn Stunden sind die Helferinnen und Helfer der Tafel im Einsatz. Die wachsende Not der Menschen ist für sie offensichtlich.
Da ist die alte Dame mit kleinster Rente, die nun auch noch an Krebs erkrankte. „Wir richteten auch für sie einen Bringedienst ein.“ Und da sind die Facharbeiter, die abgewiesen werden mussten. „Es ist schlimm, dabei dann von Familienvätern hören zu müssen, dass sie nicht mehr wissen, wie sie das Geld für Miete, Strom und Lebensunterhalt aufbringen sollen.“ Die Politik müsse da rasch eine Lösung finden, fordert Bever. Die Bundesregierung sieht das wohl ähnlich und tagt aktuell, um nach einem ersten Entlastungspaket weitere Erleichterungen für die Bürger auf den Weg zu bringen. Bever meint: „Sie sollten sich beeilen, das, was wir hier sehen, beinhaltet sozialen Sprengstoff.“