Kabul/Düsseldorf/Oberhausen. Sie haben so viel Schlimmes erlebt, in Afghanistan kann ihnen kein Arzt mehr Schmerzen und Behinderungen nehmen – deshalb hilft das Friedensdorf.
Der Mann mit dem dichten schwarzen Bart, dem weißen Turban und der Flecktarnjacke, auf deren Ärmel-Aufnäher eine Kalaschnikow prangt, wischt sich die Tränen aus den Augen. Heute nimmt er Abschied von seinem Sohn – und es wird einige Monate dauern, bis er ihn wiedersehen wird.
Vor dem Büro der Hilfsorganisation Roter Halbmond in der afghanischen Hauptstadt Kabul geht es heute Morgen allen Eltern ähnlich, wie dem jungen Talib. Es fließen viele Tränen an dem Tag, an dem sich 54 Kinder in zwei kleine Busse setzen, die zum Flughafen Kabuls fahren. Manche Väter und Mütter halten ihre Handflächen an die Scheiben, andere winken, wieder andere machen mit feuchten Augen Fotos.
Gemischte Gefühle der afghanischen Eltern
Andererseits freuen sich die Eltern darüber, dass ihre Kinder endlich nach Deutschland können. Sie haben alle schon viel von der Arbeit des Friedensdorfes Oberhausen gehört, dieser Hilfsorganisation, die seit über 30 Jahren Kinder zur Behandlung aus ihrem geplagten Heimatland mitnimmt und sie in an einen Ort bringt, wo sie mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern bis zu ihrer Genesung bleiben.
Oberhausen ist ihnen hier natürlich kein Begriff, aber das afghanische Fernsehen berichtet immer wieder über die Deutschen, die anders als viele andere Hilfsorganisationen auch jetzt noch kommen, wo die alte Regierung nicht mehr ist, und die Taliban die Macht übernommen haben. „Wir danken euch, möge Gott euch schützen“, sagt Abdullah, ein Mann Mitte Fünfzig mit ergrautem Bart und einem Gesicht, in das das harte Leben tiefe Linien gefurcht hat.
Die Kinder, die das Friedensdorf diesmal mitnimmt, warten schon lange auf den Flug. Die Friedensdorfhelferinnen Birgit Helmuth und Claudia Peppmüller hatten sie zusammen mit dem afghanischen Arzt Marouf Niazi bereits im Februar ausgesucht. Damals, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban und einem bitterkalten Winter, waren die deutschen Helferinnen regelrecht überrannt worden. Über 2200 Kinder wurden von ihren Eltern vorgestellt, nur 90 konnten im März darauf die Reise antreten.
Kinder mit schlimmen Knochenentzündungen
Am vergangenen Sonntag sind die beiden Frauen wieder in Kabul angekommen, um die Reise der nächsten Kinder nach Deutschland vorzubereiten. „Es sind viele Kinder dabei, die schlimme Knochenentzündungen haben“, erzählt Birgit Hellmuth, die Leitern der Einzelfallhilfe des Friedensdorfes. Zwei Tage vor der Abreise am Donnerstag waren einem Kind bei einem Verbandswechsel zwei Knochenfragmente aus der Wunde gefallen, eines mehr als zehn Zentimeter lang. Andere Kinder haben fürchterliche Verbrennungen erlitten, jetzt können sie ihre Hände nicht mehr benutzen oder ihre Münder nicht mehr schließen.
Hellmuth ist bereits seit 1992 immer wieder im Land am Hindukusch. „Die medizinische Grundversorgung scheint sich trotz des zwanzigjährigen Engagements des Westens nicht entscheidend verbessert zu haben“, sagt sie. Das gelte besonders für die Provinzen. „Dort werden selbst schwerste Verletzungen und Erkrankungen nicht einmal erstversorgt.“
Besonders auffällig ist der schlechte Ernährungszustand viele Kinder. „Seitdem wir im vergangenen Jahr die Machtübernahme der Taliban vor Ort erlebt haben, waren wir im Dezember, Februar, März und August wieder da. Von Mal zu Mal werden die Menschen ärmer und dünner“, berichtet Claudia Peppmüller, die Sprecherin des Friedensdorfes. Viele Afghanen sind arbeitslos geworden, die Lebensmittelpreise und die Energiekosten sind massiv gestiegen. „Es fehlt einfach an allem.“ Ein Vater hat ihr erzählt, dass er seine siebenköpfige Familie mit gerade einmal 20 Dollar monatlich durchbringen muss.
Das Friedensdorf versucht, die Not in Afghanistan zu lindern und ruft zu Unterstützung auf, schon aus ganz pragmatischen Gründen: „Wenn die deutsche Gesellschaft nicht bereit ist, neben den vielen Flüchtlingen aus der Ukraine vermehrt Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, sollte sie das Land nicht vergessen: Es sollte schleunigst Hilfe geleistet werden“, sagt Peppmüller. Das Friedensdorf habe gezeigt, dass das trotz der widrigen Bedingungen funktioniert. „Wir haben seit Dezember insgesamt fünf Lebensmittelverteilaktionen für insgesamt 14.000 Familien gemacht, das heißt, für etwa 100.000 Menschen“, betont die Sprecherin der Hilfsorganisation.
Am Kabuler Flughafen bleiben die Busse mit den Kindern zwei Stunden stehen, dann schwebt die Chartermaschine aus Deutschland ein. An Bord sind 69 Kinder, die in den vergangenen Monaten im Friedensdorf waren. Sie steigen aus, sind gut genährt und tragen saubere Kleidung. Es sind Kinder aus einer anderen Welt. Die meisten lachen fröhlich, als sie die Gangway heruntersteigen, sie freuen sich darauf, nach so langer Zeit endlich ihre Eltern und Geschwister wieder sehen zu können. Die neuen Kinder steigen ein. Nach zehn Stunden Flug landet die Maschine am Düsseldorfer Flughafen.