Oberhausen / Saporishja / New York. 42 Staaten und die EU fordern den Abzug der russischen Truppen aus dem AKW Saporishja, benannt nach Oberhausens Partnerstadt in der Ukraine.
Die ukrainische Partnerstadt Saporishja ist mit dem gleichnamigen, etwa 50 Kilometer entfernt gelegenen Atomkraftwerk ins Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit gerückt, wenn es um das Kriegsgeschehen in der Ukraine geht. UN-Generalsekretär António Guterres hat jetzt mit Blick auf das AKW Saporishja jegliche Angriffe auf Atomanlagen als „selbstmörderisch“ verurteilt. Die Lage in dem Atomkraftwerk soll jetzt unabhängig überprüft werden.
42 Staaten und die Europäische Union haben am Sonntag, 14. August, den sofortigen Abzug der russischen Besatzungstruppen vom Gelände um Europas größtes Atomkraftwerk verlangt. Das berichtet die Nachrichtenagentur dpa. „Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel“, heißt es in der Erklärung, die auch die USA, Großbritannien, Norwegen, Australien und Japan unterzeichnet haben. Russland verletze damit die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) verpflichtet hätten.
AKW Saporishja: Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates
Die bedrohliche Lage im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporishja in der Ukraine hat unterdessen am 11. August den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York beschäftigt, wie dpa berichtet. Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja lehnte danach bei der Dringlichkeitssitzung die Forderung nach einem Abzug der russischen Truppen ab. Er sagte aber Moskaus Unterstützung für den Besuch einer internationalen Expertenkommission in dem Atomkraftwerk zu.
Nur wenige Stunden vor der von Russland beantragten Sitzung des mächtigsten UN-Gremiums war das AKW Saporishja laut dpa erneut unter Beschuss geraten. Nach Angaben der Besatzungsbehörde soll aus Orten unter ukrainischer Kontrolle geschossen worden sein. Der ukrainische Konzern Enerhoatom berichtete von zehn Einschlägen in der Nähe. Überprüfbar waren die Angaben nicht. Zuvor hatte die Ukraine Russland beschuldigt, das Atomkraftwerk ins Visier zu nehmen.
Der Generalsekretär der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, forderte Russland und die Ukraine vor dem Sicherheitsrat auf, einen Besuch internationaler Experten schnell zu ermöglichen. „Ich persönlich bin bereit, eine solche Mission zu leiten.“ Das Kraftwerk in Süden der Ukraine ist seit Anfang März von russischen Truppen besetzt, die es wenige Tage nach Beginn ihrer Invasion der Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht hatten, wie dpa berichtet.
Unterdessen rückt das Thema in den regelmäßigen Berichten, die Vladymyr Goloveshko an Desbina Kallinikidou vom Oberhausener Büro für Interkultur schickt, ebenfalls immer mehr in den Blickpunkt: „Das schrecklichste Verbrechen, das die gesamte zivilisierte Welt in dieser Woche aufgewühlt hat, war der Beschuss der eigenen Stellungen in der Stadt Energodar im Atomkraftwerk Saporishja durch die russischen Besatzer“, schreibt der Ukrainer, der in Saporishja seit dem Kriegsbeginn Vertreter des „humanitären Hauptquartiers der regionalen Militärverwaltung“ ist. Nach dpa-Angaben stehen etwa 60 Prozent der Region Saporishja unter russischer Militärkontrolle, die Großstadt selbst aber nicht. Die Front verläuft rund 25 Kilometer vor der Stadtgrenze.
Alle Angaben und Einschätzungen von Vladymyr Goloveshko lassen sich naturgemäß nicht unabhängig überprüfen oder verifizieren; sie geben aber gleichwohl einen Einblick in die Lage und das Stimmungsbild in der Oberhausener Partnerstadt.
Explosionen in Nähe des Kernkraftwerks
Am 5. August hätten russische Besatzungstruppen das Industriegelände des Kernkraftwerks Saporishja am Fluss Dnipro zweimal an einem Tag beschossen, schreibt Vladymyr Goloveshko. Nach dem ersten Beschuss sei ein Teil der Hochspannungsleitungen beschädigt gewesen. Mit dem zweiten russischen Beschuss seien drei Raketen auf das Gebiet des Kernkraftwerks Saporishja abgefeuert worden, die in der Nähe eines Kraftwerksblocks explodiert seien, in dem sich einer der Kernreaktoren befinde.
Vladymyr Goloveshko: „Mit diesem Beschuss haben die russischen Besatzer die Stickstoff-Sauerstoff-Anlage des Kernkraftwerks schwer beschädigt. Es besteht die Gefahr des Austretens von Wasserstoff und der Freisetzung radioaktiver Stoffe.“ Die Vertreter des russischen Unternehmens Rosatom hätten das Gelände des Kernkraftwerks vor dem Beschuss verlassen. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes sollen die Besatzer außerdem Sprengsätze in den Blöcken des Kernkraftwerks angebracht haben.
Vladymyr Gloveshko verweist auf Aussagen des US-Instituts für Kriegsforschung (ISW), wonach Russland die Anlage in Saporishja nutzen wolle, „um den USA, der NATO und der EU Angst vor einer nuklearen Katastrophe einzujagen“. Zugleich diene das Kernkraftwerk als Schutzschild gegen den Beschuss durch die ukrainischen Streitkräfte. Vladymyr Gloveshko: „Deshalb nutzen sie die Maschinenräume des Werks als Lager für ihre Munition und Ausrüstung.“
Ukrainer: „Verbotene Phosphorbomben eingesetzt“
Der Ukrainer geht in seiner aktuellen Mail auch noch auf viele weitere Aspekte der Kriegssituation im Gebiet von Saporishja ein. So würde jede Nacht die Stadt Nikopol (Region Dnipropetrowsk) mit Mehrfachraketenwerfern beschossen. Jede Nacht würden Wohngebiete in Nikopol bombardiert. Und weiter: „Erst kürzlich haben die russischen Besatzer Nikopol mit verbotenen Phosphorbomben bombardiert. Sie tun dies ungestraft und wissen, dass sie nicht zurück beschossen werden, da sie sich feige im Gebiet des Kernkraftwerks Saporishja verstecken.“
Angst vor einer Atomkatastrophe ähnlich wie 1986
Im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl (damals Teil der Sowjetunion) war es im Jahr 1986 zum schlimmsten atomaren Unfall auf europäischem Boden gekommen. In der internationalen Politik gibt es zunehmend Befürchtungen, dass sich im AKW Saporishja, ausgelöst durch Raketenangriffe, eine ähnlich schlimme atomare Katastrophe ereignen könnte.