Oberhausen/Dinslaken. Ein Mitarbeiter der Oberhausener Ludwiggalerie bringt vier ukrainische Familien nach Dinslaken in Sicherheit. Eine der Frauen stammt aus Butscha.
Die ukrainische Kleinstadt Butscha im Nordwesten der Hauptstadt Kiew ist zum Ort des Grauens geworden. Während Deutschland noch um eine Reaktion auf das Massaker von russischen Soldaten an Hunderten von Zivilisten ringt, verlieren viele ukrainische Familien ihren letzten Halt. Taisiia Khodakivska und ihr zehnjähriger Sohn Maxim sind dieser Hölle entkommen. Ein Netzwerk aus Helfern rund um einen Freund ihres Vaters aus Oberhausen und Dinslaken rettete sie und drei weitere Familien.
Jetzt sitzen die vier Frauen in der Gedenkhalle des Schlosses Oberhausen und erzählen. Immer wieder gleiten ihre Blicke dabei auf ihre Handys. Rufen die Kinder an? Vielleicht die Eltern? Oder ihre Männer? Nichts ist mehr, wie es war. Die Tage vor dem 24. Februar 2022 – als Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann – sind für Taisiia Khodakivska so fern wie ein anderes Jahrhundert. Damals ging es für die Grundschullehrerin hauptsächlich um die Noten ihrer Schülerinnen und Schüler. Als am 24. Februar in der Ukraine die ersten Bomben fielen, schlossen die Lehrer die Schule ab und schickten die Kinder nach Hause. „Ich fuhr zu meinem Mann und telefonierte von unterwegs mit meinen Eltern, die ebenfalls in Butscha leben.“
Während sich die Eltern entschlossen zu bleiben, flüchtete Taisiia Khodakivska mit ihrer Familie an die polnische Grenze. Taisiias Vater bat seinen alten Freund Sergej Gordyeyev um Hilfe. Der 57-Jährige lebt bereits seit Jahren in Dinslaken und ist seit 2007 als Techniker für die Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen tätig. Er wurde sofort aktiv und schaltete auch das in Dinslaken entstandene Flüchtlingshilfe-Netzwerk der Stadt ein.
Die Familien freundeten sich an der polnischen Grenze an
Drei, vier Tage lang wartete Taisiia Khodakivska mit ihrem Mann an der polnischen Grenze. Dabei lernte sie zufällig die „drei Marien“ kennen: Mariia Zhelieztsova, Mariia Levitska und Mariia Sizintseva waren mit ihren Kindern und Männern aus der im Bombenhagel liegenden Metropole Charkiw ebenfalls an die polnische Grenze geflohen. Mariia Levitska erzählt: „Am 22. Februar war ich noch in eine Nachbarstadt gefahren, um den Geburtstag meiner Mutter zu feiern, als wir nur zwei Tage später vom Kriegsbeginn überrascht wurden.“ Ohne lange zu überlegen, brachte sie ihre Mutter nach Polen in Sicherheit und kehrte danach in die Ukraine zurück, um ihre beiden kleinen Söhne (fünf und neun Jahre alt) an der Grenze abzuholen.
Mariia Sizintseva war um 5 Uhr früh durch die Detonationen geweckt worden, fast zeitgleich klingelte das Telefon. „Der Bruder meines Mannes rief an und sagte, ich soll die Sachen packen und mit den Kindern und meiner Schwägerin zur polnischen Grenze fahren.“ Also schnappte sie sich ihre beiden Mädchen (sieben und zehn Jahre alt) und fuhr los. Zurück blieb ihre Mutter, die sich um die pflegebedürftige Oma kümmerte.
An der Grenze freundeten sich die Familien an, gemeinsam warteten sie auf Sergej Gordyeyev, der sofort zugesichert hatte, auch die anderen drei Frauen und ihre Kinder nach Dinslaken zu holen. Als der Freund aus Deutschland eintraf, erzählen die Ukrainerinnen, sei dies Erlösung und Schock zugleich gewesen. „Wir wussten, wir würden in Sicherheit sein, aber zugleich mussten wir uns von unseren Männern verabschieden.“ Alle vier wollten kämpfen, hatten sich sofort freiwillig beim ukrainischen Militär gemeldet.
Frauen und Kinder sind in Dinslaken angekommen, mit ihren Gedanken aber sind sie in der Ukraine. Täglich telefonieren sie mit ihren Männern, ihren Familien. So erfuhr Mariia Sizintseva, dass sich auch ihre Mutter hatte in Sicherheit bringen können – und dass es ihr gelungen war, die bettlägerige Oma mitzunehmen. Mariia Zhelieztsova betet jeden Tag darum, dass ihr Vater die Angriffe auf Charkiw auch weiter überlebt und dass sie telefonisch Kontakt mit ihm halten kann.
Die Eltern von Taisiia Khodakivska harrten 15 Tage lang ohne Strom, Gas und Wasser in ihrem Keller in Butscha aus. „Bis sie es nicht mehr aushielten und in eine andere Stadt flüchteten“, erzählt die 36-jährige Tochter. Das Massaker in ihrem Heimatort mussten die alten Menschen nicht mit eigenen Augen ansehen, aber sie stießen in den sozialen Netzwerken auf die Bilder des Grauens. Trotzdem wollten sie nach dem Rückzug der russischen Truppen sofort nach Hause. Aber sie durften nicht.
Die ukrainischen Behörden warnten: „Die komplette Infrastruktur dort ist zerstört, in den Straßen und Häusern sind Minen deponiert, auch unter den ermordeten Menschen, die überall noch herumliegen, sind Sprengkörper angebracht“, gibt Sergej Gordyeyev Infos seines Freundes in der Ukraine weiter.
Gordyeyevs Blick fällt auf den Spruch in der Eingangshalle der Oberhausener Gedenkhalle. „Nur die Wahrheit wird uns freimachen“, steht dort. „Eines Tages werden sich der russische Präsident Wladimir Putin und seine Kriegsverbrecher verantworten müssen“, ist sich der Ukrainer sicher. Und er meint: „Diese Gerichtsverhandlungen müssen in Butscha und Mariupol stattfinden, den Orten der schlimmsten Gräueltaten seit dem Zweiten Weltkrieg.“
Wer kann Wohnungen zur Verfügung stellen?
Wer über geeigneten Wohnraum verfügt und bereit wäre, diesen für Geflüchtete aus der Ukraine zur Verfügung zu stellen, kann das Angebot in Oberhausen per Onlineformular übermitteln. Wer zu diesem Thema Fragen hat, kann sie per Mail unter ukraine.hilfe@oberhausen.de oder telefonisch unter 0208 825-4139 gerne an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialverwaltung richten.
Entsprechende Meldungen von freien Wohnungen (gerne auch für Familien mit Haustier) in Dinslaken nimmt die Stadt dort unter der Hotline 02064 66885 entgegen oder per Mail an ukraine-hilfe@dinslaken.de. Weitere Infos sind online unter dinslaken.de/ukraine zu finden.