Oberhausen. Olena Morentsova-Shulyk ist aus der Ukraine nach Oberhausen geflüchtet. Eindringlich und offen spricht sie über ihre Erlebnisse und Gefühle.

Zu fünft in einem Auto, mit einem sechsjährigen Kind und der 91 Jahre alten Großmutter, ist die Familie von Olena Morentsova-Shulyk aus der Ukraine geflohen. Ein kleiner Koffer in Handgepäck-Größe pro Person – das ist alles, was die Menschen aus ihrer Heimat mitnehmen konnten. „Das, und unser Leben“, sagt die 32 Jahre alte Frau. Der Krieg, das Sterben, die Zerstörung ihrer Heimat – all das sei so surreal und unglaublich schwer, in Worte zu fassen. Und doch gelingt es ihr, eindringlich und offen mit uns über das Erlebte und ihre Gefühle zu sprechen.

Olena Morentsova-Shulyk stammt aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Dort lebt sie mit ihrem Mann Anton und der sechsjährigen Tochter Alisa. Die Familie ist glücklich. Olena ist erfolgreiche Drehbuch-Autorin und hat gerade erst ein großes Filmprojekt abgeschlossen: ein Kriegsdrama über den Donbass-Konflikt im Osten der Ukraine. Ihr Mann arbeitet in einer Wirtschafts-Organisation.

Olena Morentsova-Shulyk möchte in Oberhausen ein vergleichsweise „normales Leben“ führen – für Tochter Alisa. Sobald der russische Krieg gegen ihr Heimatland Ukraine vorbei ist, möchte sie mit ihrer Familie aber so schnell wie möglich zurück.
Olena Morentsova-Shulyk möchte in Oberhausen ein vergleichsweise „normales Leben“ führen – für Tochter Alisa. Sobald der russische Krieg gegen ihr Heimatland Ukraine vorbei ist, möchte sie mit ihrer Familie aber so schnell wie möglich zurück. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Weit weg ist dieser Krieg zunächst – zumindest geografisch. „Doch eigentlich war uns klar, dass sich der Konflikt ausbreiten wird,“, erzählt Olena Morentsova-Shulyk. Ihre guten Englischkenntnisse verdankt sie unter anderem ihrem Studium in den USA und den vielen Freunden, die sie in ganz Europa hat. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 „wussten wir, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. Dass Putin ein machtbesessener Despot ist, der die Sowjetunion zurückhaben möchte“. Und dennoch hofft die Familie bis zuletzt, dass es dieses Mal beim Säbelrasseln bleibt.

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Die Hoffnung stirbt am 24. Februar 2022. Russlands Präsident Wladimir Putin befiehlt die Invasion, Raketen schlagen in den Städten ein, Menschen sterben, Gebäude werden zerstört. Familie Morentsova-Shulyk verbringt ihre Nächte fortan im Keller, immer wieder suchen sie auch tagsüber dort Schutz. Sollen sie fliehen? Olena zögert noch. „Wir waren wie gelähmt, wir haben die Detonationen der Bomben gehört und konnten doch nicht glauben, was da gerade passiert.“

„Mein Kind hat gesehen, was Krieg bedeutet“

Doch dann ein Schlüsselerlebnis: Sie ist mit der Tochter in der Stadt unterwegs, als beide sehen, wie ukrainische Sicherheitskräfte Kollaborateure fassen, die Gebäude mit Farbe markieren, um sie als Ziele der russischen Raketen zu kennzeichnen. Sie führt nicht näher aus, was mit den Männern geschehen ist. Sagt aber mit erstickter Stimme: „Mein Kind hat gesehen, was Krieg bedeutet.“

Am fünften Tag dieses Krieges beginnt die Flucht. Der Tochter wegen. „Hätte ich kein Kind, wäre ich geblieben.“ Familienvater Anton bleibt zurück, Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Olena Morentsova flieht mit Tochter Alisa, den Eltern und der Großmutter. Über Moldau und Rumänien gelangen sie nach Ungarn. Olena und ihre Tochter steigen in Budapest in ein Flugzeug Richtung Deutschland, Eltern und Großmutter schlagen sich mit dem Auto weiter durch.

Die Ukrainerin Olena Morentsova-Shulyk ist mit ihrer Familie nach Oberhausen geflüchtet. Im persönlichen Gespräch gibt es traurige und bedrückende Momente, doch es darf auch ein bisschen gelacht werden.
Die Ukrainerin Olena Morentsova-Shulyk ist mit ihrer Familie nach Oberhausen geflüchtet. Im persönlichen Gespräch gibt es traurige und bedrückende Momente, doch es darf auch ein bisschen gelacht werden. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Oberhausen war von Beginn an das Ziel. Hier leben Olena und Alisa nun bei der besten Freundin, einer gebürtigen Ukrainerin, die schon vor Jahren ausgewandert ist und mit Mann und Tochter in Oberhausen ein neues Zuhause gefunden hat. „Wir sind so dankbar und haben unendlich viel Glück“, sagt Olena. Denn auch die Eltern und die Großmutter schaffen es nach Oberhausen, leben nun gemeinsam in einer kleinen Wohnung ganz in der Nähe. „Wir dürfen zusammensein, in Sicherheit. Damit geht es uns so viel besser als vielen anderen Menschen.“

Hass und Boshaftigkeit haben ihr Herz gebrochen

Und doch sei ihr Herz gebrochen. „Dieser Hass und diese Boshaftigkeit sind so erschütternd“, sagt Olena Morentsova-Shulyk. „Das ist nicht nur Krieg, das ist ein Genozid.“ Sie verweist auf die vielen Berichte und Fotos aus der Ukraine: Massengräber mit getöteten Zivilisten, ermordete Familien, kleine Kinder, die vergewaltigt und erschossen wurden.

Empfindet sie selbst auch Hass? Die 32-Jährige lässt sich Zeit mit der Antwort, lächelt zunächst etwas hilflos, hat ihre Gedanken dann aber sortiert. „Ja, ich empfinde Hass und ich lasse diesen Hass auch zu“, sagt sie. Das sei wichtig für die mentale Gesundheit. „Ich hasse, was die russischen Soldaten tun, ich hasse den Krieg. Aber ich hasse keine Menschen“, erklärt sie. „Ich hasse auch die Menschen in Russland nicht, habe ich nie getan.“ Die Menschen, die Putin unterstützen, seien aber mitverantwortlich für das Leid der Menschen in der Ukraine. „Es liegt an ihnen, aufzustehen und gegen dieses menschenverachtende Regime zu protestieren.“

Ganz Europa sei in der Pflicht, ja die ganze Welt müsse vereint für die Menschenrechte einstehen. „Wir erleben die größte Aggression eines Landes seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, es geht um Leben und Tod, es geht um unser aller Freiheit.“ Sie könne verstehen, dass Politik kompliziert ist, „dass es Zusammenhänge gibt, von denen ich keine Ahnung habe“, sagt sie. „Aber all diese mutigen Menschen in der Ukraine kämpfen für die europäischen Werte. Sie kämpfen. Und sie sterben.“

Gut eine Stunde dauert das Gespräch mit Olena Morentsova-Shulyk. Es gibt bedrückende Momente des Schweigens. Es wird gelacht, etwa wenn die Übersetzungs-App lustige Wortkombinationen ausspuckt wie den „ängstlichen Koffer“ – die ukrainische Bezeichnung für das Fluchtgepäck. Es gibt Momente der Trauer, aber auch des Trostes. „Die Menschlichkeit wird siegen“, sagt sie zum Abschied.

So geht es weiter für Mutter und Tochter

Olena Morentsova-Shulyk und Alisa sind sehr dankbar, in Oberhausen eine Zuflucht gefunden zu haben. „Ich wünsche mir aber nichts mehr, als schnell wieder nach Hause zu kommen“, sagt die 32-Jährige. Sie fühle eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Heimat und möchte nirgendwo anders leben. „Selbst wenn vieles zerstört sein wird, gehen wir zurück und bauen alles gemeinsam wieder auf.“Einfach nur abwarten, bis der Krieg ein Ende hat, könne sie aber nicht. „Meine Tochter soll, so gut es eben geht, ein normales Leben führen.“ Olena Morentsova, die derzeit mit einer Kollegin noch an der Postproduktion eines neuen Films arbeitet, möchte einen Job in Oberhausen finden, Kontakte knüpfen, ein Netzwerk aufbauen. Wenn der Krieg länger dauert, möchte sie mit Alisa in ein eigenes kleines Apartment ziehen.Die Sechsjährige wartet derzeit noch auf einen Platz in der Vorschule und in einem Sprachkurs für Kinder. Zusätzlich hält sie auch Kontakt zum Kindergarten in Kiew: In Online-Stunden lernt sie Englisch; die Erzieherinnen und Erzieher erzählen, was gerade in Kiew passiert.Ob die Sechsjährige wohl versteht, warum sie in Oberhausen ist, sie vom Vater getrennt wurde und vorerst nicht nach Hause kann? „Oh ja, das weiß sie“, sagt Olena Morentsova-Shulyk. Vor einigen Tagen war sie mit Alisa bei der Registrierung für die Schulanmeldung. „Nach dem Gespräch hat dieses junge Mädchen der Mitarbeiterin erklärt, dass sie nun erst einmal hier lebt. Weil zu Hause Krieg ist.“ Olena erzählt nicht weiter, nimmt einen Mundvoll Kaffee – und schluckt damit die Tränen hinunter.