Oberhausen. Die Oberhausener Partnerstadt Saporishja befindet sich mitten im Krieg, Tag und Nacht heulen Sirenen. Brief eines Augenzeugen vor Ort schockiert.
Im großen Saal Berlin der Luise-Albertz-Halle, die dem Oberhausener Rat während der Pandemie als Ausweichquartier für seine Sitzungen dient, hört man an diesem Montagnachmittag kein Rascheln, kein Ticken, kein Flüstern – alle Stadtverordneten, alle Mitarbeiter, die gesamte Stadtspitze und die Besucher stehen im Saal, gedenken auf Bitten von Oberbürgermeister Daniel Schranz eine Minute lang der bisherigen Opfer des vierwöchigen Krieges in der Ukraine.
Oberhausen ist mit der ukrainischen Bevölkerung besonders verbunden, schon seit 1973 bestehen intensive Kontakte mit der 900.000-Einwohner-Stadt Saporishja in der Südost-Ukraine. Beide Großstädte sehen sich als Stahlstandorte wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch verbunden, eingeleitet wurde die Beziehung durch den legendären IG-Metaller und späteren NRW-Finanzminister Heinz Schleußer. Offiziell besiegelten Oberhausen und Saporishja die Städtepartnerschaft dann 1986 schon zu Zeiten der Sowjetunion.
Diese Städtepartnerschaft ist kein lebloses Bündnis: Humanitäre Hilfe leisteten über Jahrzehnte der frühere Förderkreis Saporishja; der Verein „Oberhausen hilft“ sanierte mit Handwerker-Tatkraft Waisenhäuser, Jugendliche trafen sich zur Multi-Jugendbegegnung, Schulen wie das Sophie-Scholl-Gymnasium und das Bertha-von-Suttner-Gymnasium füllten Schulpartnerschaften aus, Politiker gingen auf Delegationsreisen.
Der Austausch mit Saporishja, das 570 Kilometer südlich von Kiew am großen Fluss Dnepr liegt, hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges intensiviert – so erhält die Oberhausener Stadtspitze fast jeden Morgen Berichte über die Lage der Menschen vor Ort direkt aus der Partnerstadt. Sie sind meist nüchtern im Ton gehalten, inhaltlich aber erschütternd. Und daher liest Oberbürgermeister Daniel Schranz zu Beginn der Ratssitzung Auszüge aus einem aktuellen Brief von Wladimir Goloveshko vor, der früher Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Saporishja war und nun Vertreter des „humanitären Hauptquartiers der regionalen Militärverwaltung“ von Saporishja ist.
In Saporishja: Jeden Tag und jede Nacht Sirenenalarm
„Jeden Tag und fast jede Nacht warnen Sirenen vor drohenden Luftangriffen. Dann begeben sich die Bürgerinnen und Bürger in Keller, Luftschutzbunker oder den sichersten Teil des Hauses, meist ein gemeinsamer Flur, weg von Fenstern und Außenwänden. Bisher hat es mehrere Raketenangriffe gegeben, auf den Flughafen Shirokoye außerhalb der Stadt und auf einen Bahnhof in Saporishja. Eine Bombe, die auf den Botanischen Garten fiel, ist zum Glück nicht detoniert“, beschreibt Goloveshko die allgemeine Situation.
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Er schildert dann ein konkretes Kriegsereignis in einem Vorort von Saporishja: „Ein schrecklicher Fall eines Beschusses ereignete sich am 18. März: Die russische Armee hatte ein Gebäude mit einer raketengetriebenen Granate beschossen. Infolge der Explosion brach ein Feuer aus, das von einer Feuerwehr aus Saporishja gelöscht wurde. Auch Sanitäter begaben sich zum Ort der Explosion. In dem Moment, als Retter das Feuer löschten und Sanitäter die Opfer medizinisch versorgten, beschoss die russische Armee die Stelle ein weiteres Mal. Als Folge des zweiten Schlags starben acht Zivilisten und ein Feuerwehrmann. 17 weitere Personen wurden verletzt, darunter auch Feuerwehrleute und Sanitäter.“
Region Saporishja: Lebensmittel werden knapp
Nach Angaben dieses Vertreters der regionalen Militärverwaltung hat die russische Armee bereits mehrere Städte in der Region Saporishja besetzt. „Nahrungsmittel werden knapp, Lebensmittel, die es noch gibt, sind teuer, es gibt fast keine Medikamente mehr und kaum noch Kraftstoff. Die russische Armee hindert die Bevölkerung aber auch daran, die Städte zu verlassen. Die Stadt Saporishja schickt humanitäre Konvois mit Lebensmitteln und Medikamenten in die besetzten Städte. Die Lieferung gelingt nicht immer: Zum Teil werden die Konvois von den feindlichen Truppen blockiert, andere wurden von russischen Soldaten geplündert.“
Trotz der Notlage kämpft Saporishja ebenfalls damit, Flüchtlinge aus der fast völlig zerstörten Hafenstadt Mariupol und anderen besetzten Städten unterzubringen: 37.000 sind es mittlerweile.
Oberhausen hilft deshalb seit Beginn des Krieges, sammelt Spenden, bringt Tonnen an Hilfsgütern per Lkw und in Bussen nach Saporishja. „Alle Menschen in Saporishja danken allen Menschen in Oberhausen für die Hilfe und Unterstützung, die wir in all dieser schwierigen Zeit spüren. Wir haben immer gewusst, dass die Oberhausener Freunde für Saporishja sind“, schreibt Goloveshko.
Schranz: Vertrauen in Frieden erschüttert
Der Oberhausener Oberbürgermeister Daniel Schranz zeigt sich nicht nur erschüttert über das Leid so vieler Menschen durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern sieht dadurch auch das bisherige Vertrauen aller Bürger in die europäische Sicherheit für Leben, Heimat und Freiheit zerstört. „Erschüttert sind wir auch in unserem Vertrauen. 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und 27 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges schien uns doch Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit. Was wir jetzt erleben, ist das Ende dieser Gewissheit“, sagte Schranz in seiner Rede zur Lage in der Ukraine im Stadtrat. „Frieden ist keine Selbstverständlichkeit – auch nicht in Europa.“