Oberhausen. Der 58-jährige Romancier aus Dresden präsentierte im Café Klatsch „Die rechtschaffenen Mörder“ und bekannte: „Ich bin natürlich auch der Westen.“
Ingo Schulze – das macht die Resonanz seines Literaturhaus-Publikums deutlich – zählt ganz klar zu jenen Literaten, von denen mehr erwartet wird als wohlgesetzte Worte und ein solide gebauter Spannungsbogen. Der heute in Berlin heimische Dresdner ist vielmehr gefragt als Zeitdiagnostiker – und äußert sich so auch ganz gerne. „Wir kommen jetzt vom Hundertsten ins Tausendste“, meint der 58-jährige Romancier, durchaus ohne Bedauern, vor seinen interessierten Zuhörern und Mitdiskutierenden im „Café Klatsch“.
Das sollte nicht wundern, denn die Fallen und Verstrickungen seines im Ton so schlicht und getragen daherkommenden Werkes „Die rechtschaffenen Mörder“ berühren nicht nur das eine große, vielleicht allzu offensichtliche Thema: Wie kann ein anscheinend so kultivierter Antiquar wie dieser Norbert Paulini in den 20 Jahren nach der Wende derart verbittern, dass er zum Schluss des ersten Romanteils giftige Ressentiments ausspuckt, die eines Bildungsbürgers schlicht unwürdig sind?
200 Buchseiten in 40 Leseminuten gekonnt gerafft
Doch Ingo Schulze, ein routiniert-sachlicher Vorleser, streut nach diesem ersten Eindruck mit Hingabe Zweifel. Schon die durchaus flott voranschreitenden ersten 200 Buchseiten in kaum 40 Leseminuten pointiert gerafft zu haben, war kein kleines Kunststück des Autors. „Vielleicht ist der Gefährlichere nicht Paulini“, mahnte Ingo Schulze sein Publikum, „sondern der Schultze“ – mit „tz“. An dieser Vexierbild-Figur dürfte der „andere Schulze“ besonderes Vergnügen haben: Im Roman ist’s der Erzähler, der als „ich“ im ersten Teil nur sehr vereinzelt auftaucht, um dann den zweiten Teil zu bestimmen.
„Es könnte ein Kollege von mir sein“, so beschrieb Schulze den durchaus unzuverlässigen Erzähler Schultze. Tückischerweise haben der Literat und seine Erfindung noch mehr gemeinsam als Beruf und Nachnahmen: Schulze und Schultze bemühten sich als junge Männer nach der Wende, im thüringischen Altenburg eine von den großen West-Verlagen unabhängige Zeitung aufzubauen: „Wir waren ein Papierschiffchen auf hoher See“, heißt es im Roman.
„Sie haben den Schalk im Nacken“, konstatierte eine Zuhörerin bewundernd – und pries Schulzes Könnerschaft, gerade die Dialoge in indirekter Rede „wie in einem Prisma“ spannungsvoll zu bündeln. Das Kompliment hörte der 58-jährige auf dem Podium vor der kleinen Bücherwand milde lächelnd – meinte später aber fast abwinkend zur „Schönschreiberei: Es kommt auf die Funktion an!“
Weltbürger nur, wenn der Stoff hinter Buchdeckeln gebändigt ist
Ingo Schulze kommt halt lieber vom Persönlichen zum Politischen – und holt bei der etwas zudringlichen Frage „Wie haben Sie das erlebt?“ dann eher etwas weiter aus. „Ich bin natürlich auch der Westen“, sagt der Dresdner, der seinen (wenn man so will) Wende-Roman ganz überwiegend in Elbflorenz und der Sächsischen Schweiz ansiedelt. Wer mit Ortsnamen wie Bad Schandau oder Niederpoyritz etwas anzufangen weiß, hat als Leser einen kleinen Vorteil.
Speisen mit literarischer Begleitung an der Marktstraße 146
Ein bisschen bleiben das Literaturhaus und sein früheres Domizil an der Marktstraße 146 verbunden: Unter dem Motto „Erlesenes Speisen“ lädt Emile Moawad zum „Drei-Gänge-Menü mit literarischer Begleitung“ in die Weinlounge Le Baron ein. Die Reihe wird nun zusammen mit der Schauspielerin Angela Noack fortgesetzt.
Den Anfang macht am Mittwoch, 15. September, die Schauspielerin Katrin Nowack, die ihren Lieblingsautor Haruki Murakami vorstellt. Am 6. Oktober folgt Peter Waros mit seinem Geheimtipp: „Und meinem Neffen Albert vermache ich die Insel, die ich Fatty Hagan beim Pokern abnahm“ von Forrest David.
Das Drei-Gänge-Menü mit Aperitif kostet 35 Euro. Da die Anzahl an Plätzen begrenzt ist, empfiehlt sich zeitige Reservierung unter 0208 - 8848 970 oder über die Webseite weinlounge-lebaron.de.
Doch anders als sein verbissen lokalpatriotischer Antiquar Paulini – ein Weltbürger nur, wenn der Stoff hinter Buchdeckeln gebändigt ist – wechselt Ingo Schulze scheinbar mühelos zur globalen Perspektive: „Für heute 30-Jährige ist das eine fremde Welt.“ Das gilt nicht allein den Verwüstungen der Wendejahre, sondern mehr noch jenen vermeintlich glücklichen Jahren des bürgerlichen Idylls im Paulini’schen Salon: Der Gastgeber im grauen Antiquars-Kittel erwarb sich 1977 bis 1989 zwar die Aura eines Dissidenten, der sich nicht einspannen ließ vom System. Er achtete aber peinlichst darauf, auch nicht anzuecken beim (später höhnisch so genannten) „Vater Staat“.
„Es war noch nie so einfach, sich eine traumhafte Bibliothek zuzulegen“
„Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, wie man mit Büchern umgeht.“ So beantwortete Ingo Schulze, jüngst ausgezeichnet mit dem „Preis der Literaturhäuser“, die etwas fiese Frage des Literaturhaus-Vorsitzenden: Hartmut Kowsky-Kawelke wollte wissen, was „den Literaturbetrieb“ als Romanstoff so interessant macht – und hatte dabei auf Schmöker-Hits von Cornelia Funke bis Nina George verwiesen. Ingo Schulzes nonchalanter Hinweis widersprach sowohl der Bitternis seiner Romanfigur wie der Süffisanz des Fragestellers: „Es war noch nie so einfach wie heute, sich eine traumhafte Bibliothek zuzulegen.“