Ruhrgebiet/Kabul. Claudia Peppmüller ist für das Friedensdorf Oberhausen nach Afghanistan gereist. Die Essenerin erlebt die Machtübernahme mit ihren eigenen Augen.

Wenn Claudia Peppmüller aus dem Fenster ihres Gästehauses in Kabul blickt, schaut sie auf bunte Blumen und gepflegtes Grün. Als „ziemlich geile Ecke“ beschreibt sie es dort, als „Idylle“ – die jedoch gestört wird durch Schusswechsel und donnernde Geräusche. Die Taliban haben offenbar die nahe liegende Militärbasis geplündert. „Wie viele Menschen gestorben sind, können wir nicht sagen“, sagt die 51-Jährige, die erstaunlicherweise den Eindruck macht, als hätte sie kein Stück ihrer Fassung verloren. „Ich hatte schon mal Todesangst in meinem Leben, ich kann damit umgehen.“

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Belebt: Kabul vor der Machtübernahme durch die Taliban.
Belebt: Kabul vor der Machtübernahme durch die Taliban. © Friedensdorf Oberhausen | Claudia Peppmüller

Die langjährige Mülheimerin und heutige Essenerin ist seit Jahren beim Friedensdorf Oberhausen engagiert. Vergangene Woche reiste die Sprecherin der Hilfsorganisation in die afghanische Hauptstadt, um dort Kinder zu begutachten, die Ende August ins Friedensdorf einziehen sollen. Dort sollen die Kinder - manche mit Knochenentzündungen, manche mit Verbrennungen oder Schussverletzungen, teils sogar am Kopf – ärztlich versorgt werden. Dass sich Peppmüller eine Woche später in einem Land unter islamistischer Kontrolle vorfinden wird, darauf hätte sie keinen Gedanken verwendet. „Es war für uns die totale Überraschung.“

Friedensdorf-Mitarbeiterin: „Das Leben in Kabul ist lahmgelegt“

Jetzt ist sie, gemeinsam mit Friedensdorf-Kollegin Birgit Hellmuth aus Duisburg und NRZ-Reporter Jan Jessen, untergebracht in einer Niederlassung des „Roten Halbmondes“. Mit der Hilfsorganisation arbeitet das Friedensdorf seit Jahren zusammen. „Unsere Partner haben uns empfohlen, nicht mehr vor die Tür zu gehen – gerade als Frauen“, sagt sie am Dienstagmorgen am Telefon „Wir sind deshalb nicht mehr rausgegangen seit der Machtübernahme.“ [Lesen Sie auch die Reportage von Jan Jessen:Kabuls letzte Stunden in Freiheit]

Von der Verzweiflung und dem Chaos, das in diesen Tagen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt herrscht, sei vor der Tür jedoch wenig zu sehen, erzählt Peppmüller. „Draußen ist das Leben komplett lahmgelegt, es ist vielerorts wie eine Geisterstadt. Ganz vereinzelt trauen sich erste Ladenbesitzer zu öffnen. Aber dann auch nur die, die Essen verkaufen.“ Alle anderen seien sich nicht sicher, was sie unter dem extremistischen Regelwerk der Taliban noch verkaufen können: Welche Kleidung? Überhaupt noch Musik-CDs?

„Man weiß nicht, was in dieser Situation zu tun ist“

Die Kinder, die im Friedensdorf Oberhausen behandelt werden sollen, haben teils schlimme Verletzungen erleiden müssen.
Die Kinder, die im Friedensdorf Oberhausen behandelt werden sollen, haben teils schlimme Verletzungen erleiden müssen. © Friedensdorf Oberhausen | Claudia Peppmüller

Peppmüller hat durch ihren Friedensdorf-Job mehrere Krisengebiete gesehen, auch persönlich lebensgefährliche Gewalterfahrungen gemacht. „So etwas habe ich aber noch nie erlebt“, sagt sie zu den historischen Stunden. „Es ist eine andere Situation als ein bestehender Krieg, in dem gewisse Spielregeln festgelegt sind. Wir sind in einer Situation, in der wir nicht wissen, was zu tun ist“, sagt sie – und wird unterbrochen von einem lauten Knall.

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„Anfangs fragt man sich: War das ein geplatzter Reifen? Das ist für einen schwer greifbar, was da gerade passiert.“ Besonders aufwühlend sei gewesen, als sich eine Gruppe von Afghanen als Taliban verkleidet hätten, um Fahrzeuge zu stehlen. „Da hat es einen Schusswechsel gegeben, der wirklich sehr nah stattfand.“ Nun stelle man sich laufend die Frage: „Wann kommen die Taliban und plündern auch unser Haus?“

Kinder sollen trotz Taliban-Übernahme Ende August nach Oberhausen kommen

Nun sollen Peppmüller und ihre zwei Begleiter ausgeflogen werden. Wann und wie das geschehen soll, steht aber weiter in den Sternen. Ihre Partner vom „Roten Halbmond“, erzählt sie, hätten nicht mal das Bedürfnis geäußert, mitkommen zu wollen. „Sie sagen: Ich bin Afghane, bleibe Afghane und werde hier bleiben. Vielmehr sorgen sie sich darum, ob wir nach den Ereignissen noch mal zurückkommen wollen.“ Hier sei die Sache für die Essenerin aber „sonnenklar“: Die Kooperation soll weitergeführt werden. „Und genauso klar ist für uns, dass wir diese zauberhaften und tapferen Kinder, die auf unsere Hilfe warten, Ende August ausfliegen wollen. Wir sind wild entschlossen!“

Am Dienstagabend, gegen 17 Uhr deutsche Ortszeit, meldet sich Claudia Peppmüller erneut – mit der frohen Botschaft: Sie konnten Afghanistan mit Hilfe der Botschaft und Bundeswehr verlassen. „Wir sitzen jetzt in Usbekistan und warten auf den Weiterflug.“

Evakuierungsaktion in Kabul

Claudia Peppmüller und Birgit Hellmuth sind zwei von rund 80 Deutschen, die derzeit in Kabul festsitzen und über Tadschikistan ausgeflogen werden sollen. Eigentlich sollte dies bereits am Montag geschehen, doch der Flug musste abgesagt werden.

Am Dienstagnachmittag ist eine weitere Bundeswehrmaschine für eine Evakuierungsaktion in Kabul gelandet. 125 Menschen wurden mit dem Flieger nach Usbekistan gebracht. Ein erster Flug startete nur mit sieben Menschen an Bord.