Gelsenkirchen/Bottrop. Ole B. war einer von vielen Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Was es mit ihm macht, dass die Taliban das Land nun so schnell übernommen haben.

Ole B. ist „erschüttert“ angesichts der Bilder aus Afghanistan. Der Ex-Bundeswehrsoldat hat selbst am Hindukusch seinen „Arsch hingehalten“ und sein Leben riskiert, wie er sagt. Jederzeit der Gefahr bewusst, zur Zielscheibe radikalislamischer Taliban werden zu können. Er hat ertragen müssen, wie Kameraden verletzt wurden und erlebt, wie zerrissen dieses Land ist, zwischen Menschen, die sich ein friedliches und modernes Leben wünschen und jenen, denen die Militärpräsenz westlicher Staaten immer unwillkommen war.

Inmitten dieser Zerrissenheit haben Soldaten und Sicherheitskräfte wie der gebürtige Gelsenkirchener ihren Auftrag erfüllt, zumindest hofften sie, dass sie ihn auch tatsächlich erfüllen konnten: Sicherzustellen, dass die afghanischen Verteidigungskräfte ausgebildet und ausgerüstet werden können, um den Kämpfern der Taliban standzuhalten und die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Schockiert, wie schnell die Taliban Afghanistan wieder erobert haben

Ole B., ehemaliger Bundeswehrsoldat in Afghanistan.
Ole B., ehemaliger Bundeswehrsoldat in Afghanistan. © Privat | Privat

„Tatsächlich aber ist alles eingestürzt wie ein Kartenhaus. Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten angeschaltet habe, waren weitere Teile des Landes in die Hände der Taliban gefallen, kampflos übergeben worden“, ist der Bundeswehrsoldat, der inzwischen in Bottrop lebt, schockiert. Als die Taliban die Provinzhauptstadt Kundus einnahmen, war das „wie ein Schlag ins Gesicht“. Dass die Islamisten vorrücken würden, nachdem die westlichen Streitkräfte das Land verlassen hatten, war erwartet worden. „Aber der schnelle und scheinbar mühelose Fall von Kundus, war ein Schock“, sagt Ole B.

+++ Damit Sie keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen: Abonnieren Sie unseren WAZ-Newsletter. +++

Zweifel an der Kampfmoral der afghanischen Truppen gab es immer, Gründe dafür gibt es viele, berichten Experten und auch deutsche Soldaten. Vor allem aber fehlte es den Afghanen offenbar an etwas, woran sie hätten glauben können, etwas, wofür es sich zu kämpfen gelohnt hätte.

Bundeswehrsoldat empfindet große Leere angesichts der Lage in Afghanistan

Diese Leere empfindet nun auch Ole B. „Wir hätten dort sterben können und jetzt fragt man sich, wozu das alles gut gewesen ist. Der Einsatz erscheint nun noch ein Stück sinnloser, da er auch persönlich viele Einbrüche mit sich gebracht hat“, sagt der junge Mann und denkt dabei an die Beziehung zu seiner Freundin, die sie beendet hat, weil der Einsatz ihn so verändert habe.

Ole B. tun die „vielen netten und guten Menschen leid, die Dolmetscher und Helfer, die uns geholfen haben“, die „jetzt sich selbst überlassen sind“. Er hofft, dass ihnen die westlichen Regierungen helfen werden – „und zwar schnell“.

Dennis S. fällt das Nachrichtensehen in diesen Tagen schwer

„Ich bin erschüttert“, sagt B. abermals, sein Gesicht wirkt dabei wie eingefroren, die Augen leer. Erst nach ein paar Sekunden blinzelt er ein paar Mal, ist mit den Gedanken wieder im Hier und Jetzt. Der 32-Jährige holt tief Luft, richtet sich auf, streckt den Rücken durch und schweigt.

Auch interessant

Auch Dennis S. fällt es „sehr schwer“, die Bilder aus Afghanistan in den Nachrichten zu sehen. Der 41-jährige Hauptfeldwebel der Bundeswehr war zweimal für jeweils sieben Monate am Hindukusch, 2008/9 und 2011, und auch er kann nicht fassen, dass alles das, was Bundeswehr und Nato in den vergangenen Jahren mühsam aufgebaut haben, jetzt in kürzester Zeit zerstört wird.

Auch zehn Jahre nach dem Einsatz ist der Hauptfeldwebel traumatisiert

Dennis S., der in Gelsenkirchen geboren wurde und auch hier wohnt, ist zum Gespräch in die Redaktion gekommen. Er entscheidet sich für einen Platz mit dem Rücken zur Wand, von dem aus er die Tür im Auge behalten kann. Das Fenster ist offen, jedes Mal, wenn draußen ein lauteres Geräusch zu hören ist, dreht sich sein Kopf automatisch in die Richtung. Zehn Jahre nach seinem letzten Einsatz ist er immer noch traumatisiert.

Der Soldat hat viel erlebt in dieser Zeit, vieles, von dem er erzählen kann, noch mehr, von dem er nicht erzählen möchte. Dazu gehören gute Erinnerungen genau wie schlechte. „Wir haben Brunnen gebaut, wir haben Dörfer mit Wasser versorgt, haben Schulen errichtet“, zählt er auf. „Wir haben Kindern Spielzeug geschenkt und in leuchtende Augen geblickt.“ Er erinnert sich aber auch daran, wie es war, bei mehrtägigen Patrouillen im jedem Moment den Tod vor Augen zu haben, erinnert sich an die Mine, die unter seinem gepanzerten Fahrzeug explodiert ist, an seinen besten Freund, der vor seinen Augen gestorben ist.

Dennis S. hätte sich eine fairere Berichterstattung gewünscht

Und dennoch: Stünde er noch einmal vor der Entscheidung, würde er wieder nach Afghanistan gehen. „Ich bin Soldat aus Überzeugung“, sagt Dennis S. Es möge Leute geben, die sich wegen des Extra-Geldes für den Einsatz gemeldet hätten – er gehöre nicht dazu. „Wir haben dort ja letztendlich unsere Werte verteidigt“, sagt er.

Auch interessant

Er hätte sich gewünscht, dass die Medien ausführlicher und fairer über den Einsatz berichtet hätten – das hätte ihm, so glaubt er, viele schwierige Diskussionen in der Heimat erspart. „Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee“, sagt er, „und der Bundestag hat sich für unseren Einsatz entschieden. Wir haben ihn ausgeführt.“ In diesen Tagen ist er in Gedanken in Kundus – „die Taliban haben gerade einmal vier Stunden gebraucht, um es einzunehmen“, sagt er und schüttelt mit dem Kopf. „Da fragt man sich schon, wofür das alles war.“

Er selbst hat Afghanistan vor zehn Jahren verlassen, doch Afghanistan hat ihn nie verlassen. Noch immer meidet er Menschenmengen, wird nervös, wenn er auf der Straße jemanden mit dem Handy telefonieren sieht – „wenn in Afghanistan jemand telefoniert hat, dann ist meist kurze Zeit später eine Bombe explodiert.“ Seine Familie weiß von seinem Trauma, weiß, dass man in seiner Gegenwart keine Luftballons platzen lassen sollte, dass das Silvesterfeuerwerk schwierig ist. Fremde wissen das nicht – und das sei ein Problem. Denn äußerlich ist er unversehrt geblieben, die Kriegsnarben sind im Kopf. „Mir wäre es lieber, ich hätte einen Arm verloren“, sagt Dennis S. und meint das sehr ernst. „Dann müsste ich weniger erklären“, sagt er und schaut aus dem Fenster in den deutschen Regen.

Zur selben Zeit läuft die größte Evakuierungsmaßnahme in der Geschichte der Bundeswehr.