Oberhausen. 30 Jahre war Harald Schwab Leiter der evangelischen Jugendhilfe. Er erlebte egoistische Eltern, depressive Kinder – und einen späteren Mörder.

Als Harald Schwab vor dreißig Jahren seine Stelle als Geschäftsführer der evangelischen Jugendhilfe Oberhausen antrat, lautete die Bezeichnung noch „Heimleiter“. Bis heute, wo er als 65-Jähriger in den Ruhestand tritt, mag er dieses Wort noch viel lieber. „Menschen ein Heim zu bieten, das ist doch etwas Schönes“, sagt der Diplom-Sozialarbeiter, „auch wenn es nur auf Zeit ist.“ Im Leben eines Kindes könne ein Jahr „eine gigantisch wichtige und lange Zeit“ sein. Dies hat er unzählige Male erfahren dürfen. Im Interview zu seinem Abschied vom geliebten Beruf erzählt er davon und auch von egoistischen Eltern und diesem einen Jugendlichen, der ihm Jahre später noch schlaflose Nächte bereitet hat.

Herr Schwab, haben sich eigentlich die Befürchtungen bewahrheitet, dass Kinder in der Corona-Pandemie besonders viel Gewalt erleben?

Ich habe schon den Eindruck, dass besonders in Familien, die unter schwierigen Umständen leben, der Druck gestiegen ist. Und wenn das passiert, dann leiden immer die Schwächsten. Zunächst hatten wir aber sehr wenig Anfragen für Beratung oder Betreuung, was daran lag, dass es die Zugänge, über die wir meistens erreicht werden, nicht mehr gab. Die Kitas und Grundschulen waren ja geschlossen.

Ein historisches Foto von den Anfängen der evangelischen Jugendhilfe Oberhausen.
Ein historisches Foto von den Anfängen der evangelischen Jugendhilfe Oberhausen. © Foto: Evangelische Jugendhilfe

Begonnen hat die Geschichte der evangelischen Jugendhilfe mit einem Waisenhaus, in das Kinder aus finanzieller Not gebracht wurden. Was sind heute die Gründe dafür, dass Sie helfen müssen?

Im Grunde hat sich nicht viel verändert. Auch heute ist es der ökonomische Zwang, der zu Unsicherheiten, Stress und Belastungen führt. Die Kinder sind diejenigen, an denen das abgeladen wird. Finanzielle Armut fördert nicht gerade ein gutes Miteinander.

Wie erleben Sie die Eltern, mit denen Sie zu tun haben?

Viele wollen ein Kind haben, sind aber nicht bereit, ihr eigenes Leben dafür hinten anzustellen. Wie oft habe ich Eltern in Kursen erklären müssen: Wenn ich mich entscheide, ein Kind zu bekommen, dann ist mein Leben, wie ich es bisher gelebt habe, vorbei. Ich kenne junge Mädchen, die wollen unbedingt ein Baby haben. Und wenn das Kind dann da ist und sie nicht mehr ausgehen können, dann ist es im Weg. Der gefährlichste Moment für Kinder ist jedoch die Trennung der Eltern. Wenn sich neue Konstellationen ergeben, dann ist es oft so, dass alte Kinder zu viel sind. Der neue Partner will dann eigene haben. Das beobachten wir immer wieder. Ein weiteres Phänomen ist, dass immer mehr Mütter und Väter unter psychischen Erkrankungen leiden. Das ist tragisch: Menschen, die Liebe entwickeln, fürsorglich sein wollen, es aber durch ihre eigene Belastung nicht schaffen.

Vor 40 Jahren lernte Schwab seinen Traumjob kennen

Zwar war Harald Schwab 30 Jahre lang Geschäftsführer der evangelischen Jugendhilfe Oberhausen, doch schon vor 40 Jahren arbeitete er erstmals für diese. Nach dem Jura-Studium hatte er damals noch ein Lehramtsstudium aufgenommen und landete auf der Suche nach einem Nebenjob im Kinderheim. Er brach sein Studium ab und studierte Soziale Arbeit.

Nach dem Diplom arbeitete er bei der Stadt Duisburg, später bei der Jugendhilfe in Düsseldorf und kehrte dann 1991 zur Jugendhilfe zurück in seine Heimat. Seit sechs Jahren lebt der gebürtige Oberhausener wegen der Arbeitsstelle seiner Frau in Wuppertal. Mit ihr hat er eine Tochter; zwei weitere Kinder hat sie in die Ehe mitgebracht.

Was sagt das, wie Sie Eltern erleben, über unsere Gesellschaft aus?

Ich finde, dass es in den letzten Jahrzehnten fünf große gesellschaftliche Entwicklungen gab: Erst war da die Aufbau-Generation nach dem Krieg. Dann kam eine gewisse Saturiertheit in den 60er Jahren, dann die Leistungsgesellschaft. Wer etwas erreichte, konnte sich Dinge kaufen und in den Urlaub fahren. Die Spaßgesellschaft wollte sich etwas gönnen, hatte Hobbys, machte Fernreisen. Heute erleben wir die totale Selbstverwirklichung. Ich kreise um mich selbst. Das spiegelt sich auch in unserer Arbeit mit Familien.

Heim-Leben in Coona-Zeiten: Erzieherin Charlyn Tischer bastelt mit zwei Kindern in der Wohngruppe „High Five“ in Alstaden.
Heim-Leben in Coona-Zeiten: Erzieherin Charlyn Tischer bastelt mit zwei Kindern in der Wohngruppe „High Five“ in Alstaden. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Brauchen Familien mehr oder andere Hilfsangebote?

Es gibt eigentlich genügend Angebote, aber vielleicht haben wir Profis nicht immer das glückliche Händchen, die richtige Hilfe an der richtigen Stelle anzubieten. Manchmal ist sie zu stark standardisiert. Da heißt es dann: Gehen Sie mal zur Beratungsstelle. Dabei geht dann zu viel Zeit ins Land, in der man schon hätte anders helfen können. Gute Nachbarschaften könnten da helfen. Lebensquartiere, in denen Menschen aufmerksam miteinander sind. Nicht im Sinne von Wachsamkeit, sondern, indem sie einander ansprechen und Hilfe anbieten. Das könnte professionelle Hilfen ergänzen und auch verhindern, dass Leid entsteht.

Wie haben sich die Kinder denn verändert im Laufe der Zeit?

Ein Trend der letzten Jahre ist, dass immer mehr Kinder depressiv sind und sehr früh schon psychisch belastet. Wir haben es auch immer mehr mit Kindern zu tun, bei denen wir Schwierigkeiten haben zu verstehen: Warum verhält es sich so? Die wirken dann einsichtig, wenn man ihnen was erklärt – und machen dann doch gleich darauf das Gegenteil. Manchmal steckt eine Beeinträchtigung der Hirnentwicklung dahinter, weil die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Das ist gar nicht mal so selten.

Es wurde viel über systemrelevante Berufe gesprochen in den letzten Monaten. Wie geht es den Erziehern, Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, die in der Jugendhilfe tätig sind?

Wir sind ein kleines Berufsfeld zwischen Kindertageseinrichtungen und Schulbildung, das häufig vergessen wird. Das war auch in der Pandemie so. Aber wir hatten jetzt gerade großen Erfolg und darauf bin ich auch stolz, weil ich es mit angestoßen habe: Alle Mitarbeiter haben ihre erste Impfung erhalten. Was auch erfreulich ist: Als ich angefangen habe, wurde man noch sehr schlecht bezahlt. Heute verdienen wir gut, die Reputation hat sich sehr geändert und der Arbeitsmarkt ist entspannt – zumindest haben arbeitssuchende Erzieherinnen und Erzieher kaum Probleme, eine Stelle zu finden.

Harald Schwab im Dezember 2020.
Harald Schwab im Dezember 2020. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Wie ist es Ihnen persönlich gelungen, all die Jahre auch mit vielen traurigen Geschichten und Leid konfrontiert zu sein?

Ich blicke mit großer Dankbarkeit auf mein Berufsleben zurück. Besonders bin ich den Kindern, denen ich ganz am Anfang begegnet bin, unendlich dankbar. Sie haben mich dazu gebracht, mich für diesen Beruf zu entscheiden. Als ich einen Studentenjob im Kinderheim an der Helmholtzstraße annahm, habe ich nach wenigen Tagen gemerkt: Das berührt mich im Innersten. Natürlich gab es auch traurige Situationen und schlimme Momente – ich erinnere mich an die schlaflosen Nächte, als ich erfuhr, dass Frank Gust, der als Ruhr-Ripper bekannt wurde, Mitte der 90er Jahre vier Morde begangen hat. Ich hatte ihn als 15-Jährigen in einer Wohngruppe betreut und habe mich immer wieder gefragt, ob wir nicht schon damals hätten etwas bemerken können. Aber insgesamt bin ich einfach dankbar dafür, dass ich machen durfte, was ich liebe und dafür auch noch Geld bekommen habe. Unser Beruf bietet so viel Gestaltungsmöglichkeiten – natürlich immer gepaart mit Verantwortungsbereitschaft. Und die Kinder, für die wir da sind, sind nicht nur arme Wesen, die Pech gehabt haben. In ihnen steckt ganz viel Potenzial. Es ist an uns, dieses herauszufordern und zu entwickeln.

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