Oberhausen. Aus Angst, sich in der Klinik mit Corona anzustecken, warten viele Bürger in Not damit, den Rettungsdienst zu rufen. Manchmal zu lange.
Je höher sich die dritte Corona-Welle auftürmt, desto größer die Angst vor einer Ansteckung. Genau aus diesem Grund verzögern aktuell viele Oberhausener wichtige Arzttermine. Noch schlimmer: Sogar Notarzt und Rettungsdienst werden oft erst auf den letzten Drücker angerufen. In immer mehr Fällen ist es dann sogar zu spät. Michael Reindl ist alarmiert. Der Mediziner ist Chefarzt der Klinik für Akut- und Notfallmedizin am Ameos Klinikum St. Clemens, stellvertretender Ärztlicher Direktor für alle drei Ameos Kliniken in Oberhausen und als aktiver Notarzt oft genug selbst in der Stadt unterwegs.
Wenn Sie auf die letzten Tage und Wochen zurückblicken, was sind Ihre Erfahrungen?
Michael Reindl: Es ist eine deutliche Zunahme an schweren Fällen zu beobachten. Früher kamen die Patienten zum Beispiel bei einem Herzinfarkt schon bei den ersten Warnsignalen in die Klinik. Heute warten sie, bis es gar nicht mehr geht. Das ist aber nicht nur bei einem Infarkt so. Wir hatten hier kürzlich eine ältere Dame, die seit drei Tagen kaum noch Luft bekam. Wir waren über den Schweregrad schockiert. Letztlich stellte sich heraus, dass die Frau eine akute Lungenentzündung hatte. Es war fünf vor Zwölf. Als wir sie fragten, weshalb sie erst jetzt in die Notaufnahme gekommen ist, erzählte sie, sie hätte Angst gehabt, sich im Krankenhaus mit Corona anzustecken.
Eine berechtigte Sorge?
Natürlich nicht. In Oberhausen, wie auch im Rest der Republik, nutzen die Menschen doch bereitwillig, sobald es möglich gemacht wird, die Baumärkte oder Einkaufszentren. Auch im Supermarkt quetschen sich die Kunden oft genug viel zu dicht aneinander vorbei, auf der Nase meist nur eine einfache Discounter-Maske. Ich sehe nicht, dass einer davon vor lauter Sorge, sich anzustecken, auf seine Shopping-Tour verzichtet. In allen örtlichen Krankenhäusern dagegen gibt es Corona-Management-Teams. Unsere Mitarbeiter in der Notaufnahme tragen eine medizinische Schutzkleidung und FFP2-Masken. Sie sind geimpft und werden trotzdem einmal wöchentlich auf Corona getestet. Bei jedem Patienten wird bei der Aufnahme im Krankenhaus ein Schnelltest gemacht, außerdem nach 24 Stunden auch noch ein PCR-Test. Es gibt feste Covid-Stationen und abgetrennte Covid-Bereiche auf den Intensivstationen. Mehrmals wöchentlich werden alle Maßnahmen überprüft und bei Bedarf auch in Rücksprache mit dem Gesundheitsamt ausgeweitet. Es passiert ganz, ganz viel hinter den Kulissen. Mehr Vorsorge geht nicht.
Eine Ansteckung im Krankenhaus ist also ausgeschlossen?
Einen 100-prozentigen Schutz kann es überall dort, wo Menschen zusammenkommen nicht geben, auch nicht im Krankenhaus. Erst recht nicht, seitdem auch in Oberhausen hinter rund zwei Dritteln aller Corona-Infektionen die britische Mutation steckt.
Wieso ist diese Variante so gefährlich?
Eine soeben in „The Lancet Public Health“ veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass diese Mutation in allen Altersgruppen eine deutlich höhere Übertragbarkeit hat. Ein Grund dafür sind wohl Mutationen, die das sogenannte Spike-Protein betreffen und dafür sorgen, dass das Virus noch schneller und effektiver an seine Zielzellen andocken kann als die ursprüngliche Variante. Bei der ursprünglichen Variante stieg das Risiko sich zu infizieren, nach einem 15-minütigen Kontakt ohne Mund-Nasen-Schutz deutlich an. Bei der britischen Variante reichen bereits Sekunden. Auch die Viruslast selbst soll höher sein. Sechs Monate nach ihrem ersten Auftreten in Großbritannien macht B.1.1.7 zirka 90 Prozent der Corona-Fälle in Deutschland aus. Das belegen die Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI). Dazu passt, dass das Durchschnittsalter der Covid-Patienten auf unseren Intensivstationen auf 50 bis 60 Jahre gesunken ist. Die meisten davon hatten keine Vorerkrankungen. Unsere jüngste Patientin war 33 Jahre alt. Gute Nachrichten gibt es aber auch.
Welche?
Nach dieser neuen Studie soll B.1.1.7 nicht – wie zunächst vermutet – schwerwiegender verlaufen. Steigende Patientenzahlen auf den Intensivstationen erklären sich vor allem durch die schnellere Zunahme der Fallzahlen. Und auch gegen B.1.1.7 helfen nach wie vor die längst bekannten Regeln: Also Abstand halten, Handhygiene, Lüften und Kontakte möglichst vermeiden. Großbritannien hat die zunächst unkontrollierte Ausbreitung durch einen strengen Lockdown in den Griff bekommen. Aber es gibt eben nicht nur Covid-19, auch andere schwere Erkrankungen müssen ärztlich behandelt werden. Gerade Patienten mit Herzinfarkten, Schlaganfällen, Lungenentzündungen und Blutvergiftungen sollten so schnell wie möglich im Krankenhaus behandelt werden. Dabei spielen auch die Angehörigen eine große Rolle.
Inwiefern?
Einen leichteren Schlaganfall nehmen viele Patienten selbst gar nicht wahr. Die Sprachstörungen erkennen sie als solche nicht. Kopfschmerz, Gleichgewichtsstörung oder Schwindel werden als „nicht so schlimm, das vergeht schon wieder“ unterschätzt. Manchmal reicht auch schon ein ernst genommenes Symptom wie ein Flimmern vor den Augen, damit der nach einem kleinen Schlaganfall oft auftretende große Anfall im Krankenhaus noch verhindert werden kann. Und beim Herzinfarkt gilt: Bei Engegefühl, Schmerzen in der Brust sofort ab zum Arzt. Gerade Frauen und Risikopatienten sollten aber auch bei ungewöhnlichen Rücken- und Kieferschmerzen hellhörig werden, denn bei ihnen kann sich ein Infarkt oft auch atypisch bemerkbar machen.
Besuchsverbot wegen steigender Infektionszahlen
Aufgrund der steigenden Infektionszahlen in Oberhausen gilt in den Ameos Klinika Oberhausen aktuell wieder ein Besuchsverbot. Ausnahmen sind mit negativem Corona-Schnelltest nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt in folgenden Fällen aber möglich: Besuch von Kindern auf der Kinderstation durch ein Elternteil, Besuch von Palliativ-Patienten durch einen Besucher pro Tag nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt sowie eine Begleitperson von Schwangeren, die zur Entbindung kommen.
Alle Besucher müssen einen negativen Corona-Test einer anerkannten Schnelltest-Stelle vorlegen, der nicht älter als 48 Stunden alt sein darf. Darüber hinaus besteht Maskenpflicht (medizinische Gesichtsmaske/OP-Maske oder FFP-Maske) während des gesamten Aufenthalts. Pflicht sind außerdem: Händedesinfektion sowohl beim Betreten als auch beim Verlassen der Einrichtungen sowie die Einhaltung der Abstandsregelungen von mindestens 1,5 Metern – auch im Patientenzimmer.
Langjährige Diabetiker, die Schmerzen krankheitsbedingt nur noch reduziert wahrnehmen, sollten eine neu aufgetretene Kurzatmigkeit in jedem Fall abklären lassen. Auch ein anhaltender Husten sollte von jedem Patienten bei einem Facharzt untersucht werden, um eine mögliche Lungenentzündung frühzeitig zu entdecken. Leider bis heute unterschätzt wird von vielen aber auch die Blutvergiftung, die sich schleichend nach einem einfachen Infekt entwickeln kann. Warnsignale sind hier eine erhöhte Temperatur ohne Erkältungszeichen und eine neu auftretende Desorientierung. Wenn Mutter oder Vater plötzlich nicht mehr wissen, wo sie sind, kann ich nur den Rat geben, so schnell wie möglich einen Arzt aufzusuchen. In all diesen Fällen sollten im Zweifelsfall auch die Angehörigen resolut zum Hörer greifen. Besser, man klärt diese Symptome einmal zu viel ab – als einmal zu wenig.