Oberhausen. Ingeborg Tritt stirbt an den Folgen der NS-Euthanasie. Ihr Stolperstein in Alstaden setzt für Schwester Edith ein wichtiges Zeichen.

Weiße Rosen liegen auf dem Bürgersteig. Die Haustür an der Straße Heiderhöfen 57 wirkt wie viele im Oberhausener Stadtteil Alstaden. Und doch unterscheidet sich der Ort nicht nur durch wenige Zentimeter Gehweg. Ein neu verlegter Stolperstein erinnert seit Freitag an Ingeborg Tritt. Als Jugendliche stirbt sie 1945, kurz nach Kriegsende, im Alter von nur 16 Jahren - an den Folgen nationalsozialistischer Euthanasie.

Es ist eine aufrüttelnde Geschichte, die am ehemaligen Wohnsitz der Großfamilie mit 15 Kindern ihren Anfang nimmt. Mit sieben Monaten erkrankt Ingeborg Tritt an "Kopfgrippe", die man heute als Hirnhautentzündung bezeichnet. Knapp 16 Jahre später, der Obhut ihrer Eltern längst entrissen, endet ihr Leben in Wien. Auf 27,5 Kilogramm Körpergewicht abgemagert. Todesursache: Folgen einer Mangelernährung.

Intensive Recherche geht der Stolperstein-Gruppe nah

„Die Recherche zum Leben von Ingeborg Tritt geht einem persönlich sehr nah“, sagt Bärbel Weniger. Gemeinsam mit Anke und Martin Haun, Michaela Krings-Kröll und Cornelia Schiemanowski hat sich die Stolperstein-Projektgruppe der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit dem kurzen Leben der Alstadenerin beschäftigt. Ein Jahr sucht die Gruppe nach Krankenakten, alten Protokollen und Zeitzeugen. Per Telefon. Per E-Mail. Und durch persönliche Treffen.

Aufmerksam lauscht auch Edith Dorsch den Worten der Rechercheure, die im kleinen Kreis die Erinnerung hochalten. Die Griffe ihrer Gehhilfe hat sie fest umklammert und blickt dabei auf das Familienbild einer kleinen Schwarz-Weiß-Fotografie, das neben dem Stolperstein auf dem Gehweg klebt. Es ist ein sehr persönlicher Moment für Edith Dorsch. Die 90-Jährige ist Ingeborgs jüngere Schwester.

Ingeborg Tritt wird am 30. Januar 1929 als viertes Kind der Eheleute Gustav und Martha Tritt geboren. Er ist Bergmann, sie Haufrau. Zunächst wohnt die kinderreiche Familie am Ohrenfeld 84, zieht dann zum Heiderhöfen. In der Evangelischen Kirche Alstaden wird Ingeborg Tritt getauft.

Die schwere Erkrankung des Kleinkindes bereitet der Familie Sorgen. Neben der Kopfgrippe stehen Diphtherie, Masern, Rachitis und Bronchitis in der Krankenakte. Die Familie merkt, dass sich Ingeborg nicht wie andere Kinder entwickelt. Verzögert lernt sie sitzen und laufen. 1936 wird sie mit Schwester Edith in der Alstadener Hiberniaschule eingeschult. Doch die Lehrer schreiben in ihre Akte: „Schulunfähig!“

Leidensweg voller Schweigen und Verschleierung

Ingeborgs Eltern werden bedrängt, das Kind nach den Vorgaben der nationalsozialistischen "Rassenhygiene" in eine Heilanstalt zu übergeben. Vater Gustav fährt sie im März 1939 in die Rheinische Provinzial Kinderanstalt nach Bonn.

Der zuständige Arzt attestiert „angeborenen Schwachsinn“. Ingeborg wird verlegt. Nach Bad Kreuznach. „Quasi auf Amtswegen“, wie die Stolperstein-Gruppe ermittelt. „Verschleierung und Schweigen prägen den weiteren Leidensweg.“

Ingeborg verliert immer weiter an Körpergewicht. 1943 werden viele Heilanstalten in Lazarette umgewidmet, deren Patienten in größere Einrichtungen verlegt. Ingeborg Tritt befindet sich nun in der Pflege- und Heilanstalt „Am Steinhof“ in Wien. Diese ist völlig überfüllt.

Historiker sprechen von „Wilder Euthanasie“, bei der verabreichte Schlafmittel und gezielte Mangelernährung den Tod beschleunigen und verschleiern. Die Sterblichkeit im Wiener Steinhof steigt bis Kriegsende auf knapp 43 Prozent.

Stolperstein hält die Erinnerung wach

Die Familie möchte Ingeborg Tritt zu Weihnachten ein Paket senden. Doch ein persönlicher Kontakt kommt nicht zustande. Die Tochter überlebt die Kapitulation des Dritten Reichs, stirbt jedoch am 25. Oktober 1945 an Folgen der Mangelernährung.

Die Stolperstein-Gruppe kann den erschütternden Lebensweg nachzeichnen. „Doch vieles bleibt offen und ungeklärt - zum Beispiel, wo Ingeborg Tritt nach ihrem Tod beerdigt wurde." Der markante Messingstein soll helfen, das dunkle Kapitel nicht zu verdrängen.

Das ist auch im Sinne ihrer Schwester Edith. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass unsere heutige Gesellschaft das alles nicht mehr wahrnimmt“, sagt die 90-Jährige. „Ich finde es wichtig, dass wir die Lehren aus der Geschichte nicht vergessen.“

Info: Weitere Stolpersteine folgen in Oberhausen im Jahr 2022

Seit 1997 verlegt Gunter Demnig zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus handgefertigte Stolpersteine. „Diese werden am letzten selbstgewählten Wohnort der Menschen verlegt, die zwischen 1933 und 1945 Opfer der systematischen Verfolgung und industriell betriebenen Massenvernichtung der Nazis wurden“, heißt es bei der Gedenkhalle Oberhausen.

In Oberhausen erfolgte am Freitag bereits die 16. Verlegung der Stolpersteine, die nächsten sollen im Jahr 2022 folgen. Bürger können Vorschläge unterbreiten und Patenschaften übernehmen.