Oberhausen. Wer nach den Problemen in Lirich-Nord fragt, bekommt schnell „die Ausländer“ als Antwort geliefert. Der Erfolg der AfD hat aber mehrere Gründe.

Unbeeindruckt vom umliegenden Leerstand hält man das Geschäft im Bellizzi Eissalon mit ungewöhnlichen Geschmackssorten am Leben. Es wäre nicht vermessen, das Eiscafé als das Herz von Lirich-Nord zu bezeichnen. Und auch im Herzen des Bezirks wählt man AfD.

„Die denken einfach mal anders“, findet Maikel Bellizzi, gebürtiger Brasilianer und Chef der Eisdiele. Ihn ärgert, dass inzwischen so viele – Deutsche wie Ausländer – eine „Faulheits-Mentalität“ an den Tag legten. „Ich bin seit 20 Jahren in Deutschland, aber brauchte nie Unterstützung, war nie arbeitslos.“ Viele andere Mitbürger dagegen würden den Staat viel zu sehr ausnutzen, meint der 39-Jährige. Der schwache Sozialstaat, den die selbst ernannte Alternative fordert: Für Bellizzi offenbar Wahlgrund genug.

AfD liegt in Lirich-Nord deutlich vor den Grünen

„Entsetzliches Ergebnis“

Bülent Sahin (SPD) hat den Wahlbezirk Lirich-Ost mit 32 Prozent der Stimmen gewonnen. „Das Ergebnis der AfD ist entsetzlich“, sagt er. „Es bleibt aber keine andere Möglichkeit, als weiterzumachen und die Ärmel hochzukrempeln.“ Man müsse die AfD-Wähler mit sachlichen Argumenten überzeugen, dass sie auf dem falschen Weg seien.

Eine konkrete Erklärung für das AfD-Ergebnis habe er nicht, gibt Sahin zu. Aber auch er sieht die Folgen der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 als einen zentralen Grund. Letzten Endes sei es ja aus der Not geboren gewesen, damals in Lirich gleich zwei Heime zu errichten. „Aber klar ist: So richtig Mitspracherecht hatten wir damals nicht wirklich.“

Lirich-Nord ist Oberhausens AfD-Hochburg. OB-Kandidat Wolfgang Kempkes hat hier bei der Kommunalwahl am Sonntag mit 13,4 Prozent sein einziges zweistelliges Ergebnis eingefahren. Sogar noch mehr Wähler (14,5 Prozent) haben sich für die 56-jährige Ratskandidatin und Hausfrau Claudia Birkholz entschieden, im Stimmbezirk 1302 waren es sogar mehr als 19 Prozent. Damit ist die AfD in Lirich-Nord im Vergleich zum Gesamtergebnis (7,6 Prozent) doppelt so stark und drittstärkste Kraft, deutlich vor den Grünen.

Wer nach den Gründen für so ein Wahlergebnis fragt, vermutet vor allem eine Pauschalantwort: „Die Ausländer“. Und in der Tat ist es die Begründung, die man von den Anwohnern am häufigsten hört. „Hier gibt es so viele Flüchtlinge“, sagt der eine, „in den Klassen gibt es ja kaum deutsche Kinder“, sagt die andere.

Schon „prollig“ in den Siebzigern?

Abgestellter, zugemüllter Einkaufswagen im Vordergrund, Leerstand im Hintergrund: Auch solche Ecken gibt es in Lirich-Nord.
Abgestellter, zugemüllter Einkaufswagen im Vordergrund, Leerstand im Hintergrund: Auch solche Ecken gibt es in Lirich-Nord. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Lirich musste nach den großen Flüchtlingsbewegungen 2015 mehr stemmen als andere Teile Oberhausens – gleich zwei Unterkünfte wurden hier errichtet, an der Duisburger- und an der Ruhrorter Straße. Aktiv ist derzeit nur noch das Heim an der Duisburger Straße mit derzeit rund 160 Bewohnern. Aber dass viele mit der damaligen Verteilung nie so ganz zufrieden gewesen seien, würden sich bis heute nur wenige Anwohner trauen zu sagen, glaubt eine 65-jährige Dame. Weshalb wohl auch die meisten, sie eingeschlossen, ihren Namen nicht in einem öffentlichen Artikel lesen wollen.

Die Dame macht gerade eine Raucherpause vor der Apotheke, in der sie seit vielen Jahren arbeitet. In Lirich sei sie zwar geboren, aber bereits seit Jahrzehnten in Kirchhellen wohnhaft. „Ich habe meine Eltern schon als Kind auf den Knien gebeten, irgendwo anders hinzuziehen“, erzählt sie. „Es war hier schon damals zu prollig, ein Brennpunkt.“ Damals: Das sei 1971 gewesen. Die Probleme in Lirich kamen also offenbar nicht über Nacht.

Besonders niedrige Wahlbeteiligung in Lirich

Wurzeln sorgen für Stolperfallen auf dem Gehweg an der Wunderstraße in Lirich.
Wurzeln sorgen für Stolperfallen auf dem Gehweg an der Wunderstraße in Lirich. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Welche Probleme das neben dem angeblichen „Ausländer-Problem“ heute sind, zeigt sich bei einem Gang über die Wunderstraße. Ein widersprüchlicher Name, zumindest was den sichtlich mitgenommenen Straßenbelag und die hügeligen, von Baumwurzeln erhobenen Gehwege angeht. Die Verwaltung wollte die Straße 2018 für 1,35 Millionen Euro sanieren, dafür hohe Anliegerbeiträge nehmen und Bäume fällen – die in einer Online-Petition als letzter „Lichtblick“ in einem vernachlässigten Stadtteil beschrieben wurden. Auf einen Plan B hat man sich bei der Sanierung aber nicht eingelassen. Kommunalpolitik und Verwaltung hätten hier keinen guten Stand, heißt es deshalb von einem langjährigen Bewohner.

Wenn man sich denn hier überhaupt für Politik interessiert. Die Wahlbeteiligung lag in Lirich-Nord mit 36,5 Prozent noch deutlich unter dem ohnehin niedrigen Oberhausener Durchschnitt von 41,9 Prozent. „Für einen Otto-Normalverbraucher wird in der Politik doch sowieso nichts getan“, sagt André Putzu von seinem Balkon aus. Der 28-Jährige war nicht wählen. „Wenn ich das Rumgesinge von der Politik schon höre…“

„Hier ist alles okay, alles gut“

Ibo Nahircis (58) „Kebap Haus“ gehört seit fast 30 Jahren zu Lirich.
Ibo Nahircis (58) „Kebap Haus“ gehört seit fast 30 Jahren zu Lirich. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Lirich-Nord sei aber gar nicht so schlecht, findet Putzu. „Ich komme aus Bochum-Stahlhausen. Dagegen ist es hier total ruhig.“ Zufrieden ist man auch beim Kebab Haus an der Wilmsstraße, das seit fast 30 Jahren fest zu Lirich gehört. „Hallo, mein Herz“, grüßt Inhaber Ibrahim „Ibo“ Nahirci eine Passantin freundlich. „Man kennt mich hier, ich bin Liricher“, sagt der 58-jährige gebürtige Kurde ganz selbstverständlich – die zahlreichen Fotos vom örtlichen Schützenverein, die in seinem Döner-Imbiss hängen, sprechen Bände. Wenn „dieses scheiß Corona nicht wäre“, witzelt er, hätte er dieses Jahr vielleicht Schützenkönig werden können. „Hier ist alles okay, alles gut“, findet er.

„Lirich, klein und schmierig“? Was der Volksmund gerne behauptet, liegt eben doch im Auge des Betrachters.