Oberhausen. Regisseurin Bettina Böhler widmet sich dem Leben von Christoph Schlingensief und lässt den Provokateur aus Oberhausen posthum selbst erzählen.
Ihr Terminkalender ist am Samstag eng getaktet, aber diese Zeit nimmt sie sich: Für Filmemacherin Bettina Böhler führt der Weg kurz vor der NRW-Premiere ihrer Filmbiografie „Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“ in der Lichtburg zunächst an den Oberhausener Altmarkt. Direkt neben der Kirche Herz Jesu, wo der Apothekersohn einst als Ministrant diente, haben sie dem berühmten Kind der Stadt posthum eine Straße gewidmet.
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„Vermutlich würde er sich freuen“, sagt Böhler. „Christoph Schlingensief war auch jemand, der ein Leben lang unter mangelnder Anerkennung gelitten hat.“ Eine Kehrseite, die bis zu seiner kontroversen „Parsifal“-Inszenierung bei den Bayreuther Wagner-Festspielen oft unter den Tisch fiel.
Doch mit Licht und Schatten geizt Bettina Böhler bei ihrer zweistündigen Stippvisite in das Seelenleben des vor zehn Jahren im Alter von 49 Jahren an Lungenkrebs verstorbenen Ausnahmekünstlers aus Oberhausen wahrlich nicht.
Wiedervereinigung als Kettensägenmassaker
Eine Ferndiagnose kann man der gebürtigen Freiburgerin dabei nicht unterstellen. Bei den Schlingensief-Filmwerken „Terror 2000“ und „Die 120 Tage von Bottrop“ arbeitete Böhler als Filmeditorin mit dem Provokateur eng zusammen.
Nun stellt sie die Dramaturgie einer Filmbiografie auf den Kopf. Sie lässt keine alten Weggefährten lobhudeln, sondern montiert alte Interviews des Meisters zusammen und lässt ihn selbst erzählen. Und die ohnehin stolzen 120 Minuten Spielzeit scheinen beinah knapp bemessen.
1998 forderte Schlingensief mit seiner Politpartei „Chance 2000“ sechs Millionen Arbeitslose auf, in den Wolfgangsee zu steigen, um das Urlaubsdomizil des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl in Sankt Gilgen zu überfluten.
Schlingensief initiierte die deutsche Wiedervereinigung in „Das deutsche Kettensägenmassaker“ als Blutrausch, bei dem der Westen den Osten durch den Fleischwolf dreht. Und das darf man bei der 1990er-Produktion so wörtlich nehmen, dass Bettina Böhler mit Blick auf die Altersfreigabe ihres Filmporträts (letztlich ab 12 Jahren) auf allzu brutale Schnittbilder verzichtete.
Christoph Schlingensief – provokant und verletzlich
Mit der versnobten Kunst-Schickeria wollte Schlingensief zu Lebzeiten nie etwas zu tun haben – und doch wird der Sinn einiger abstrakter Aktionskünste dem Laienpublikum wohl für immer verborgen bleiben.
Das sollte allerdings niemanden von einem Kinobesuch abhalten – ganz im Gegenteil. Bettina Böhler verschafft durch ihre geschickte Collage selbst Kunstbanausen Zugang zu Schlingensiefs Seelenleben.
Unterhaltsam, doch nie banal. Persönlich, aber nicht voyeuristisch. Böhler zeigt ein sensibles Bild einer provokanten wie verletzlichen Persönlichkeit, für die Grenzüberschreitungen stets ein Stilmittel waren.
„Viele gesellschaftliche und politische Probleme hat er beinah visionär behandelt“, sagt die Filmemacherin. Das Schauerbild von brennenden Asylbewerberheimen zeichnete Schlingensief schon weit vor der unheilsamen Realität.
Langer Applaus für ein sensibles Filmporträt
Sein Oberhausen? Ist in der Dokumentation allgegenwärtig. Erste filmische Jugendaufnahmen im Garten, dazu Blicke auf eine durch die Montanindustrie geprägte Stadt. „Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“ ist Filmbiografie und Heimatfilm zugleich.
Schlingensief arbeitete mit Helge Schneider
Die Musik in der kurzweiligen Film-Biografie „Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“ steuerte Helge Schneider bei, mit dem Schlingensief an Frühwerken wie „Menu Total“ (1986) und „Mutters Maske“ (1988) tüftelte. Für Schneiders Nonsens-Referenzklasse „00 Schneider“ (1994) stand Schlingensief wiederum hinter der Kamera. Bei „Johnny Flash“ (1987) ist der Oberhausener als Schauspieler zu sehen.
Christoph Schlingensief wirkte als Filmemacher, Theaterregisseur und Autor. Dabei arbeitete der am 21. August 2010 in Berlin verstorbene Oberhausener mit international bekannten Schauspielern wie Udo Kier zusammen.
Losgelassen hat der Abiturient vom Heinrich-Heine-Gymnasium eben nie. Der Künstler besuchte seine Eltern an der alten Apotheke am Altmarkt mindestens zweimal im Monat, selbst als er schon lange in Berlin wohnte. Eine tiefe Bindung, die bis zum Tod nicht abriss.
„Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“ lässt schmunzeln, die Stirn in Falten legen und zugleich innehalten. Zum Beispiel, wenn der Künstler nach schwerer Krebstherapie von seinem Krankenbett aus spricht.
Bei der NRW-Premiere in der Lichtburg gibt es langen Applaus. Eine bemerkenswerte Filmbiografie über einen willensstarken wie streitbaren Oberhausener, der in der heutigen Zeit mehr denn je fehlt.