Oberhausen. Eine Krankenschwester gewährt schonungslose Einblicke in ihre Arbeit. Die Oberhausenerin will anonym bleiben, um ihre Stelle nicht zu verlieren.
Ohne Whistleblower (Hinweisgeber) wären viele Missstände nie ans Licht gekommen. Einer der bekanntesten der jüngsten Vergangenheit ist Edward Snowden. Der ehemalige technische Mitarbeiter der US-amerikanischen Geheimdienste NSA und CIA machte mit Hilfe tausender kopierter Dokumente die Existenz von Programmen amerikanischer und britischer Geheimdienste öffentlich, die der Totalüberwachung des weltweiten Internetverkehrs dienen. Die Oberhausenerin, die sich an unsere Zeitung gewandt hat, um über ihren Beruf zu berichten, möchte anonym bleiben. Sie fürchtet um ihre Stelle. Ihre Identität ist der Redaktion bekannt. Ein Arbeitsvertrag liegt vor. Sie ist seit vielen Jahren Krankenschwester, arbeitet heute in einer Nachbarstadt. Redakteurin Barbara Hoynacki protokollierte ihre Geschichte:
„Viele wissen nur oberflächlich, was unseren Beruf überhaupt ausmacht. Sie denken, eine Krankenschwester arbeitet halt mit Patienten, überprüft den Blutdruck, gibt Medikamente, hilft auch schon mal beim Waschen – aber das war es auch schon.
Ich arbeite in der Regel zwölf Tage am Stück durch und das oft in drei Schichten: früh, spät, Nacht. Dann habe ich drei bis vier Tage frei. Meistens komme ich am Freitag gegen 7 Uhr früh von der Nachtschicht. Dieser Freitag gilt dann bereits als freier Tag. Ich lege mich nur kurz hin, um etwas zu schlafen. Denn ich muss ja so schnell wie möglich wieder in einen anderen Schlafrhythmus finden. Mein nächster Dienst beginnt am Montagnachmittag. Dann fangen meine nächsten zwei Arbeitswochen an.
Die Patienten berichten von ihren Sorgen, Ängsten, ihren Familien
Die Frühschicht beginnt bei uns um 6 Uhr. Die Übergabe dauert rund 30 Minuten. Dabei erfahre ich, was im Spät- und Nachtdienst so alles passiert ist, worauf ich achten muss. Ich bin auf einer onkologischen Station tätig, dafür habe ich eine Zusatzausbildung als Palliativ-Care-Krankenschwester gemacht. Inzwischen frage ich mich, weshalb überhaupt. Ein wesentlicher Teil meiner Ausbildung bestand auch darin, mit den Patienten über das Thema Tod zu sprechen und zu lernen, wie wichtig es ist zuzuhören. Aber dafür habe ich gar keine Zeit.
Dabei ist der Wunsch zu sprechen, so groß. Die Patienten erzählen mir von ihren Sorgen, Ängsten, ihren Familien. Und ich stehe da ein, zwei, drei Minuten, gucke auf die Uhr und muss wieder gehen. Wenn ich morgens dann einen dieser Patienten tot im Bett finde, dreht sich mir der Magen um. Da ist wieder jemand ganz alleine verstorben. Ich hätte so gerne ein bisschen an seinem Bett gesessen, die Hand gehalten. Wenigstens das. Das ist so unmenschlich, das zerreißt mir das Herz. All diese toten Menschen verfolgen mich bis in den Schlaf. Ich habe so oft Alpträume.
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Wir sind aber eben nur drei bis vier examinierte Pflegekräfte auf einer Station mit über 30 Schwerkranken. Wenn wir Glück haben, kommen noch zwei Pflegeschüler oder ein Praktikant dazu. Die können uns wenigstens die ganzen Wege durchs Haus abnehmen: Blutproben ins Labor bringen, Patienten zum Röntgen fahren. Zehn bis 15 Untersuchungstermine fallen auf unserer Station täglich an.
Das nimmt so viel Zeit in Anspruch, aber das sieht kein Mensch. Ebensowenig wie die ganze Büroarbeit. Allein um eine ärztliche Anweisung ins Reine zu schreiben, auszuarbeiten und umzusetzen, benötige ich 15 Minuten. Zwei bis drei Stunden täglich kommen in der Regel zusammen. Zwischendurch klingelt immer wieder der Notruf. Manchmal schafft es ein Patient nicht mehr zur Toilette. Das machen wir auch weg. Dafür gibt es keine Putzfrau.
Über dem Nachttisch tot zusammengebrochen
Immer wieder haben wir auch Kranke, die bereits dement sind und sich selbstständig machen. Dann laufen wir durchs ganze Haus, um die wieder einzufangen. Wir haben doch die Verantwortung, aber wir können nicht überall gleichzeitig sein. Die ziehen sich auch schon mal die Zugänge und richten dadurch ein Blutbad im Zimmer an. Im Spätdienst sind wir zu zweit. Nachts ist es am schlimmsten. Da bin ich oft alleine für 33 Patienten zuständig. Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich das alles schaffen soll.
https://www.waz.de/staedte/oberhausen/corona-oberhausener-chefarzt-warnt-vor-diskriminierung-id228873601.html Dazu kommt die enorme seelische Belastung. Da ist dieser Mann, den ich morgens fand, zusammengesunken über dem Nachttischschrank lag er tot in seinem Erbrochenen. Wussten Sie, dass alle Menschen, die sterben, alles unter sich lassen? Kot, Urin. Das machen wir weg. Wir waschen die Toten, damit den Angehörigen dieser Anblick erspart bleibt.
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Viele Patienten bringen eine Patientenverfügung mit. Die meisten wissen gar nicht, welche Folgen das für sie haben kann, wenn sie schwer krank sind. Wir dürfen die dann nicht einfach gehen lassen. Wir müssen, wenn sie es so festgelegt haben, alles medizinisch Mögliche tun.
Wir sehen dabei so Grausames. Der Mensch wird bei einer Reanimation auf dem Bett hin und her geschoben, bewegt sich auf und ab wie eine Puppe. Wir knien in Blut, Erbrochenem – und wir müssen dieses Szenario bis zu einer halben Stunde durchhalten. Auch wenn es sich um einen Krebspatienten im Endstadium handelt, wenn das so in seiner Patientenverfügung steht. Erst, wenn der Oberarzt sein Wort zum Beenden gibt, dürfen wir aufhören, diese sterbenden Körper zu quälen. Danach wird weitergearbeitet, als wäre nichts passiert, denn es gibt ja noch andere Patienten, die versorgt werden müssen und darauf warten, eine stets gut gelaunte und freundliche Krankenschwester zu sehen.
Die Folgen durch den Lockdown waren wie ein Geschenk
Die Folgen des Lockdown im März durch die Corona-Krise waren für uns wie ein Geschenk. Wir mussten uns um weniger Patienten kümmern, hatten zum ersten Mal Zeit, mit den Menschen auf unserer Station zu sprechen. Ich habe mich sogar einmal eine ganze Stunde lang unterhalten können. Das war wunderbar.
https://www.waz.de/staedte/oberhausen/krankenpfleger-waren-coronavirus-schutzlos-ausgeliefert-id228982309.html Ich verdiene 3100 Euro brutto im Monat. Als bekannt wurde, dass nur die Pflegekräfte in den Alteneinrichtungen einen Corona-Bonus von 500 Euro erhalten sollen, war das für uns wie ein Schlag ins Gesicht. 500 Euro sind ja schon ein Witz. Aber gar nichts? Weshalb nicht für uns? Das Risiko sich mit dem Virus zu infizieren, ist bei uns sehr hoch. Es gibt in meinem Krankenhaus keine standardmäßigen Tests bei der Aufnahme. Acht Stunden lang trage ich einen einfachen Mund-Nasenschutz.
Die Whistleblower aus Bottrop
Auch sie zählen zu den Whistleblowern: Martin Porwoll und Marie Klein, der kaufmännische Leiter und die pharmazeutisch-technische Assistentin der „Alten Apotheke“ in Bottrop, enthüllten 2017, dass dort jahrelang illegale Panscherei mit Anti-Krebsmitteln (Zytostatika) praktiziert worden ist. Mehrere tausend schwer- und oft todkranke Krebspatienten waren geschädigt worden.
Martin Porwoll hatte die Zahlen zwischen den tatsächlich gelieferten und abgerechneten Wirkstoffen verglichen und Anzeige erstattet. Marie Klein hatte einen Infusionsbeutel, der eigentlich hätte vernichtet werden sollen, sichergestellt und den Ermittlern übergeben.
Ich würde mir für alle Kollegen wünschen, dass unsere Leistung sich endlich in der Bezahlung widerspiegelt und dass die Häuser mehr Personal einstellen. Was das Personal betrifft, habe ich aber wenig Hoffnung: Die meisten Nachwuchskräfte bei uns sind durch das Praktikum schon so abgeschreckt, dass sie sich danach gar nicht mehr um eine Ausbildung bewerben. Wer die aber durchgehalten hat, beginnt meist zu studieren. Die Arbeitsbedingungen bei uns sind einfach zu schlecht. Das will keiner mehr machen. Da muss sich dringend etwas verbessern. Das Gesundheitswesen ist doch eigentlich eine staatliche Aufgabe, das hat die Corona-Krise bewiesen. Realität ist aber, dass Krankheit zum Wirtschaftsfaktor geworden ist. Das ist schief gegangen. Die Menschlichkeit ist auf der Strecke geblieben – für Patienten und Pflegekräfte.
Mein großer Traum, Menschen zu helfen, ist geplatzt. Ich tue, was ich kann, aber bis zur Rente halte ich das unter diesen Bedingungen niemals aus. Ich frage mich, woran es liegt, dass alles Menschenwürdige in unserer Gesellschaft so wenig Wertschätzung erfährt. Am Beginn der Corona-Krise sah es so aus, als ob sich zum ersten Mal etwas ändern würde. Da waren wir plötzlich systemrelevant und alle freuten sich darüber, dass es die vielen Krankenhäuser noch gibt, von denen nach dem Willen der Gesundheitspolitik doch so viele geschlossen werden sollten. Es wird sich zeigen, ob unsere Bundes- und unsere Landesregierung daraus tatsächlich etwas gelernt haben.“